Nun ist es nicht so, dass der Mensch von der Wurst alleine lebt, aber in einem Land, dessen Metzger sich rühmen, über ein Potpourri von rund 1500 Sorten zwischen Fleischwurst, Cervelat, Leberwurst, Schinkenwurst, Bierwurst, Teewurst, Frankfurter alias Wiener, Weißwurst, Mettwurst, Blutwurst, Bockwurst, Jagdwurst, Landjäger, Mortadella, diversen Bratwürsten, Salami & Co zu verfügen, kommt dieser Fleischgattung schon eine Hauptrolle zu.
Die Wurst, laut den Lexikologen von Wikipedia, „ein Nahrungsmittel, das aus zerkleinertem Fleisch, Speck, Salz und Gewürzen, bei bestimmten Sorten auch unter Verwendung von Blut und Innereien zubereitet wird“, ist ein deutscher Liebling und gilt neben Brot, dem Wald und Weihnachten als nationales Kulturdenkmal. Neuerdings macht sich in diesem geheiligten Kosmos allerdings eine Rohwurst aus Spanien breit, die in ihrer Heimat seit Jahrhunderten als Diva verehrt und verzehrt wird.

Ihr Name: Chorizo, Tschorißo mit leicht rollendem „r“ ausgesprochen, männlichen Geschlechts in Spanien, weiblich eingeordnet im Deutschen. Es ist keine zwanzig Jahre her, da war die Chorizo, diese spanischste aller Würste, allenfalls Touristen bekannt, die sich die rotbraunfarbige, aus Schweinefleisch, Speck, Salz, Knoblauch und vor allem Paprikagewürz komponierte Spezialität aus dem Urlaub mitbrachten. Inzwischen wird die Chorizo auch nördlich des Alpenhauptkammes im Internet angeboten, gibt es sie im Supermarkt und liegt sie in den Theken vieler Metzger. Sie verleiht Pizzen eine pikante Note, wird von Bäckern in Brotstangen eingebacken, macht aus simplen Hamburgern eine kleine Delikatesse und bereichert Salate sowie Eintöpfe. Auch Meisterköche haben die aromatische Potenz der Spanierin erkannt und nutzen sie für raffiniert zubereitete Speisen. Spanische Größen wie Martin Berasategui oder Dani Garcia huldigen der Chorizo schon aus nationaler Hingabe – so wie es ehedem Ferran Adrià in seinem „El Bulli“ nahe Barcelona getan hat – roh für den privaten Konsum, molekular verfremdet im Restaurant. Und Juan Amador, Sproß spanischer Eltern, jetzt in Wien, hat Gäste in seinem Mannheimer Drei-Sterne-Restaurant mit gebratenen Stücken von der Chorizo in Sepia-Tagliatelle begeistert.
Die „Urwurst““. Selbst Goethe sagte nichts zur Urwurst.
Bei aller Wursterei ist eine Frage ungeklärt, nämlich die nach dem Ursprung: Hat es eine Urwurst gegeben? Falls ja, wie war die beschaffen, woraus gemacht, wie schmeckte sie? Darauf gibt es seltsamerweise keine Antwort. Weder bei den Philosophen noch bei Goethe, der ja sonst nichts außer Acht gelassen hat, was mit Genuß zu tun hat, kann man Erhellendes nachlesen. Aus den aktuell existierenden Arten lässt sich jedenfalls keine Urwurst rekonstruieren, so dass wohl – wie bei der ebenso unbeantwortbaren Frage nach dem Urlebewesen – für alle Zeiten offen bleibt, ob eine Schmierwurst oder eine Hartwurst der Prototyp war.
Chorizo in der Gourmetküche
Der international als bester deutscher Koch gerühmte Joachim Wissler schätzt insbesondere die würzende Kraft der Chorizo. In seinem hoch dekorierten „Vendôme“ im Grandhotel Schloß Bensberg dünstet er die Chorizo in einem Sud mit Staudensellerie, Tomaten und weißen Bohnen zu einer cremigen, überaus köstlichen Sauce, mit der er einen kroß an der Haut gebratenen Loup de mer (Wolfsbarsch) betröpfelt, ergänzt um einige extra in Olivenöl angebratene Wurststückchen. Für Jean-Claude Bourgueil vom Düsseldorfer „Schiffchen“ sind „Fisch und Chorizo ein sexy Gespann“. Gesagt und getan, Bourgueil ersetzt die Knorpelknochen eines angebratenen Rochenflügels durch sehr fein geschnittene Chorizo und gewinnt, indem er den solcherart originell angereicherten Rochen zu Ende gart, zusätzlichen Geschmack. Andere Köche schieben papierdünne Scheiben von Chorizo unter die Haut eines Geflügels und erzielen auf diese Weise eine leckere mediterrane Note.
Chorizo in der bürgerlichen Küche
Daß sich die Hochküche für die Chorizo geöffnet hat, belegt deren kulinarische Attraktivität, aber abseits solcher, letztlich mehr dem Renommee dienenden Ausflüge ist die Paprikawurst vor allem in der bürgerlichen Welt zu Hause. Am privaten Herd oder im Restaurant, ob roh genossen, gebraten, gedünstet, gekocht, geräuchert oder gegrillt, fühlt sich diese entfernte Verwandte der Salami am wohlsten; ihre eigentliche, nämlich wahre Welt ist die ungekünstelte in Pfannen und Töpfen. Das liegt an ihrer herzhaften, ja im besten Sinne rustikal und mitunter auch derb zu nennenden Art. Schweinefleisch, Speck, Knoblauch und das „Pimentón“ als prägendes Farb-, Duft- sowie Würzelement sorgen wohl für eine starke und geschmacklich eigenwillige Persönlichkeit, sind jedoch nicht gerade feine Ingredienzien, abgesehen davon, dass ein Produkt, von dem allein in Spanien jährlich um die 50 000 Tonnen erzeugt werden, nicht nur geschmackliche, sondern auch qualitativ bedeutsame Unterschiede aufweist. Es gibt sie dick und dünn, kurz und lang, weich und hart, fettig und mager, mild und scharf – registriert sind rund zwei Dutzend regionale Varianten, darunter auch eine mit Fleisch vom Truthahn. Wie bei jedem umhüllten Produkt entscheiden über Stil und Güte auch bei der Chorizo die Zutaten, die ihr unter die Haut geschoben werden. Ist das Fleisch fett oder mager? Wie frisch ist der Speck, wie alt der Knoblauch? Sind Innereien drin, welche und wie viel? Enthält das Brät auch Sehnen und Flachsen, eventuell sogar Knorpeln? Hat der Metzger mit Muskatnuß, Oregano, Thymian und Pfeffer gewürzt? Sind Zwiebel und Kartoffel eingebaut worden? Ist die Wurst sozusagen naturrein oder mit Zusätzen für Farbe, Haltbarkeit und Aroma versetzt? Prägend für den Geschmack ist die Beschaffenheit der Paprikawürze: mild, scharf, extra pikant, süß, edelsüß? Wie lange reift die Wurst an der Luft oder in speziellen Trockenräumen: vier Wochen oder vier Monate? Während dieses Prozesses findet eine Fermentation statt, die der Chorizo eine sanfte säuerliche Note verleiht.
Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Herkunft des Schweins. Bei der nordspanischen „Chorizo riojano“ werden Fleisch und Speck kastrierter weißer Schweine verwendet. Eher mager und mild schmeckend ist die „Chorizo cular“ aus der für ihre Würste berühmten Provinz Salamanca. Diese Chorizo ist kettenartig geformt und außen mit einem feinen weißlichen Film überzogen, der sich im Laufe der mehrmonatigen Reifung aus Schimmelpilzen und Hefepilzen gebildet hat – wie übrigens auch bei der „Chorizo de Cantimpalos“ aus Segovia, die zu 70 Prozent aus Magerfleisch und zu 30 Prozent aus Speck besteht und 20 bis 30 Tage lang in einer Höhe um 1 000 Meter reift. Beim Anschneiden ist das Fleisch freilich glatt, schön fest und blaßrot gefärbt.
„Chorizo iberico“. Die Königin unter den Chorizo
Eine Königin ist die „Chorizo iberico“, die, wie es der Titel bereits signalisiert, ganz oder zumindest überwiegend vom Fleisch des iberischen Schweins zubereitet sein soll. Die Zutaten sind im Prinzip die gleichen wie bei den anderen Chorizos, doch bei einer echten „Iberico“ werden auch wertvolle Stücke vom Rücken sowie Hinterteil verarbeitet. Die in einen Naturdarm gefüllte Wurst reift bis zu sechs Monate lang. An ihrem intensiven Geschmack ist nichts geheim, der erklärt sich aus der Schweinerasse und deren Haltung.
Im krassen Gegensatz zum Gros der deutschen Schweine, die unter unwürdigen Bedingungen in riesigen Mastställen mehr gefangen als gehalten werden, laufen die reinrassigen, hochbeinigen, schlanken und dunkelhäutigen Ibérico-Schweine, wegen ihrer schwarzen Füße sinnigerweise auch Pata Negra genannt, 14 bis 16 Monate frei in weitläufigen Gehegen umher. Etwa anderthalb Jahre lebt das Ibérico weitgehend auf sich gestellt in der freien Natur, der sogenannten Dehesa, einer ökologisch wertvollen, zwischen 500 und 1 000 Höhenmeter gelegenen Wald- und Weidelandschaft mit unzähligen Eichenbäumen im Südwesten Spaniens. Ab Oktober und November, sobald die ersten Eicheln fallen, ernähren sich die Tiere bis Februar vorzugsweise von diesen Früchten, ergänzt durch Eßkastanien, Gras, Kräuter und andere Dinge, die sie mit ihren langen Schnauzen erschnüffeln wie beispielsweise Knollen, Pilze, Wurzeln, auch kleine Insekten und sogar Schlangen. Die Hauptnahrung ist freilich die Eichel, „bellota“ auf spanisch. Fällt die Ernte gut aus, so vernascht ein Schwein pro Tag um die sechs bis zehn Kilo Eicheln, wodurch es täglich rund 700 Gramm zunimmt und bis zum Ende dieser natürlichen, einem Festessen gleichenden Mast auf ein ideales Schlachtgewicht von 160 Kilogramm bringt; die Metzger sprechen liebevoll verbrämend nicht von töten, sondern von „opfern“. Das Futter wird in hocharomatisches Fleisch umgesetzt und dank ihres Bewegungsdrangs – auf der Nahrungssuche legen die Tiere große Strecken zurück – setzt sich das Fett in beachtlicher Menge in den Muskeln ab und sorgt für die attraktive, jeden Kenner entzückende marmorartige Maserung. Studien haben ergeben, daß ungefähr die Hälfte des Fettes infolge der vornehmlichen Eichelmast aus den gleichen ungesättigten Fettsäuren besteht, wie sie auch im Olivenöl enthalten sind. Das iberische Schwein wird deshalb auch poetisch verklärt als „Olivenbaum auf vier Beinen“ gerühmt.
Chorizo ist also längst nicht gleich Chorizo, die Unterschiede können so gravierend sein wie zwischen einem Glühwürmchen und einem Blitz. Allen gemeinsam ist die pikante Herzhaftigkeit im Geschmack sowie ihre enorme kulinarische Vielseitigkeit. Die Chorizo eignet sich auch für Kombinationen abseits der bekannten Küchenpfade. Gart man Stücke von der Chorizo iberico zusammen mit Schalotten, Kartoffeln und einem aus Krustentieren zubereiteten Fond und mixt das Gemenge zu einem musartigen Brei, so entsteht eine attraktive Sauce zu Meeresfischen wie Rotbarbe, Seeteufel oder Wolfsbarsch. Ihre hocharomatische Wirkung entfaltet die Wurst auch mit Nudeln, sei es als Füllung in Maultaschen oder kurz angebraten mit Spaghetti. Und mit Stücken von der Chorizo vermengte Bratkartoffel ergeben eine Speise von köstlicher Vulgarität.
Junge Erbsen, blanchiert und gemischt mit Saubohnen, gegrillten Zucchini sowie Paprikaschoten und würfelig geschnittener, kurz angebratener Chorizo summieren sich, gewürzt mit Sherryessig, streifig geschnittener Minze, etwas Pfeffer und Olivenöl zu einem ebenso farbenfrohen wie geschmackvollen Salat. Köstlich schmeckt eine im Backrohr gegarte, mit Zwiebeln, Auberginen, Zucchini, Kirschtomaten und Chorizoscheiben belegte Gemüsetarte à la Pizza. Klassisch sind Eintöpfe mit der Paprikawurst, speziell jene mit Bohnen – die Chorizo peppt einfache Gerichte auf. Und man erhitze Olivenöl in einer Pfanne, karamellisiere darin Zwiebel nebst Knoblauch, lösche mit einem edelsüßen Wein ab (Banyuls, Riesling-Auslese, Tokajer, Ruster Ausbruch, PX-Sherry) füge etwas Kalbsfond hinzu, schmore alles weich, schmecke mit Essig, Salz und Pfeffer ab und verheirate das Gemenge schließlich als Krönung mit einer extra knusprig braun gebratenen Chorizo iberico. Mit so einem Gericht und begleitet von einem edelsüßem Wein läßt sich dem Alltag angemessen begegnen.