Für die Italiener ist Grappa nicht einfach nur irgendein Schnaps, er ist ein Teil ihrer Geschichte. Der Tresterbranntwein wurde einst aus der Not heraus geboren – und ist nach einer spannenden Entwicklung erwachsen geworden.
Foto: NONINO-GRAPPA, Pionier bei der Erzeugung rebsortenreiner Tresterbrände. Die Inhaber-Schwestern Antonella, Elisabetta und Cristina präsentieren im Reifekeller stolz einen ihrer Erzeugnisse.
„Kopf ab!“ befiehlt die Herzkönigin. „Schwanz ab!“, fordert hingegen die verblendete Feministin. „Ich schneide beides ab“, triumphiert die Brennmeisterin, „wir wollen nur das Herz …“
Nicht von grausamen Machenschaften ist hier die Rede, sondern von einer anderen italienischen Leidenschaft. Es geht um die Suche nach dem Herzen des Grappas, um das Geheimnis der Herstellung dieses für Italien höchst typischen und traditionellen Tresterbranntweins.
Trester, das ist das, was bei der Weinherstellung übrig bleibt: die ausgepressten Trauben. Die kann man vielleicht noch als Dünger verwenden, einfach entsorgen – oder Schnaps daraus brennen, denn in den Traubenhäuten befindet sich in der Regel noch so einiges an Geschmack und Süße. Der Trester wird also erhitzt, um diese Aromastoffe sowie Alkohol herauszulösen. Es entstehen Dämpfe, die aufgefangen, wieder abgekühlt und zu einer Flüssigkeit kondensiert werden.
Schon hat man die Grappabasis – doch auf das Timing kommt es hierbei an und das bringt uns wieder zu unserer Herzensangelegenheit: Im Mittellauf des Destillationszyklus, wenn die Temperatur perfekt ist, werden die reinsten Alkoholdämpfe und aromatischsten Stoffe freigesetzt. Nur dieses „Herz“ gilt es einzufangen. Alles davor und danach, „Kopf und Schwanz“, lässt man hingegen lieber unbeachtet verdampfen – und damit auch die unbeliebten Substanzen, die dem Endprodukt einen beißenden Geruch oder einen öligen Geschmack verleihen können.
Reinen Herzens schenken wir uns also einen Grappa ein, um ihn beispielsweise klassisch als Digestif zu genießen. Genuss? So manch einem wird sich an dieser Stelle vielleicht eine eher unangenehm starke, scharfe oder gar beißende Geschmackserwartung aufdrängen …
Obwohl sich der Grappa insbesondere bei den Bauern in den kargen, kalten Berglandschaften Norditaliens bereits seit mindestens 600 Jahren größter Beliebtheit erfreut, herzerwärmend wie ein südländischer Sonnenstrahl – tatsächlich war er lange Zeit wahrlich kein Hochgenuss. Als ein Produkt erfindungsreicher Resteverwertung war guter Geschmack anfangs nicht seine Aufgabe, er diente den Bauern damals vielmehr als behelfsmäßiges Trostpflaster für den Wein, den sie zwar produzieren, aber nicht trinken durften, da sich die Landbesitzer daran labten. So waren die ersten Brennapparate auch einfachste Konstruktionen, günstig herzustellen, gut zu transportieren und schnell zu verstecken, falls nötig. Man musste den Landbesitzern schließlich nicht auf die Nase binden, dass der „Abfall“, also der Trester, doch nicht ganz wertlos war.
Liebe auf den zweiten Schluck
Verstecken muss sich der Grappa schon lange nicht mehr. Doch erst in der jüngsten Vergangenheit sprang der Funke wirklich über, und aus dem Destillat wurde eine angesehene Spirituose. Bis in die 70er Jahre galt der damals sehr hochprozentige Grappa nicht nur als ein sehr „männliches Destillat“, sondern historisch bedingt sogar als „Gesöff der armen Leute“ – oberstes Gebot bei der Herstellung war folglich, die Kosten möglichst gering zu halten. Über die Jahrhunderte und Generationen von Brennerfamilien wurden die Brennapparate und Herstellungsverfahren stetig weiterentwickelt und verfeinert – denn ein guter Grappa hat nicht nur ein reines Herz, sondern wird durch weitere Faktoren beeinflusst, zusammengefasst in der „goldenen Regel der drei M“: la materia prima, la macchina e la mano.
Die festen Traubenrückstände nach der Weinherstellung sind der Rohstoff des Grappas. Möglichst frisch sollte dieser sogenannte Trester sein, damit der Grappa gut wird.
Aller Grappa Anfang ist der Trester – das erste „M“. Haben wir es schon hier mit einem Ausgangsmaterial von schlechter Qualität zu tun, dann hat der Brennmeister schwerlich eine Chance, daraus noch etwas Vernünftiges herzustellen. Eine generelle Qualitätsverbesserung trat ein, als man bei der Weinherstellung dazu überging, vor dem Einmaischen der Trauben die Stiele zu entfernen, die für den beißenden Geruch mitverantwortlich waren. Von entscheidender Bedeutung ist aber die Frische des Tresters, da eine Konservierung dieses Rohstoffs kaum möglich ist. So findet die Produktion des Grappas idealerweise nur einige Wochen im Jahr während der Weinlese statt. Ansonsten gilt für den Trester ebenso wie für den Wein, dass sich die verwendeten Rebsorten auf Charakter und Qualität auswirken. Grappa wird vor allem aus dem Trester roter Trauben hergestellt, aber auch weiße Trauben werden verwendet. Der wichtigste Aspekt im Hinblick auf den Grappa ist die Unterscheidung in aromatische und weniger aromatische Rebsorten. Die aromatischen, wie Moscato, Traminer, MüllerThurgau oder Sauvignon, zeichnen sich hierbei vor allem dadurch aus, dass die aromischen Substanzen in ihnen besonders gut konzentriert sind und bei der Destillation besser erhalten bleiben. Grappas aus diesen Rebsorten sind meist weicher, duftender und fruchtiger als Grappas aus nicht aromatischen Rebsorten, die dafür geschmacklich oft feiner und komplexer sind.
Eine kleine Revolution brach die Brennerfamilie Nonino 1967 vom Zaun. Sie bot den ersten Grappa an, der aus dem Trester einer einzigen Rebsorte destilliert wurde, und brachte mit diesem „Monovitigno“ eine neue Qualitätsstufe in die Welt des Grappas. Üblicherweise wird der Trester verschiedener Rebsorten verwendet, wobei sich diese sicherlich auch besser oder schlechter kombinieren lassen. Die besondere Attraktivität eines rebsortenreinen Grappas besteht darin, die bevorzugte und gewählte Rebsorte im Destillat riechen und schmecken zu können – klar im Vorteil sind hier die aromatischen Rebsorten.
Bloß nichts anbrennen lassen
Die Rechnung guter Trester gleich guter Grappa geht natürlich nur dann auf, wenn die entsprechenden Brennapparate zur Verfügung stehen – das zweite „M“. Viel bedarf es eigentlich nicht, um ein Destillat herzustellen: Einen Kessel mit Deckel, in dem das Ausgangsmaterial eingefüllt und erhitzt wird, sowie ein Rohr, in das die Dämpfe entweichen, abgekühlt und kondensiert werden können. Die größte Herausforderung ist dabei, die richtige Erhitzungsmethode mit der idealen Temperatur zu finden. Wenig geeignet war das zunächst verwendete offene und kaum regulierbare Feuer – der Trester kam dabei nicht nur ins Schwitzen, sondern brannte regelmäßig an und verlieh dem Erzeugnis, liebevoll „Grappa Pirelli“ genannt, ein beißendes Aroma von verbranntem Gummi. Besser, aber auch aufwendiger ist das Erhitzen im Wasserbad mithilfe eines doppelwandigen Brennkessels. In der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Wasserdampf-Methode weitgehend durch, die wirtschaftlicher bei guter Qualität ist: Der Trester wird in Korbsieben mit Wasserdampf erhitzt.
Doch noch wirtschaftlicher sollte die Herstellung werden, da Grappa als „Bauern-Schnaps“ wahrlich nicht zu einem Luxus gut zählte, mit dem es sich reich werden ließ.
In den 1960er Jahren wurde die kontinuierliche Brennmethode entwickelt – schneller, billiger und in großen Mengen ließ sich Grappa nun vollautomatisch und industriell herstellen. In der Folge entbrannte ein neues Feuer in der GrappaWelt, nämlich die heiße Diskussion zwischen Traditionalisten und Modernisten hinsichtlich der Qualität eines industriell erzeugten Produktes im Vergleich zu einem nach traditionellem Verfahren hergestellten. Kontroversen solcherart schwelen seit dem Abklingen der ersten Industrialisierungseuphorie freilich in nahezu allen Marktbereichen – und mindestens genauso oft ist eine Verdrängung kleiner, traditioneller Handwerksbetriebe die Folge technischer Errungenschaften.
So wird auch der Grappamarkt inzwischen zu etwa 80 Prozent von industriell hergestellten Produkten dominiert. Ist von Grappa die Rede, dann übrigens auch ausschließlich vom italienischen Markt – nur hier wird der Tresterbranntwein so genannt. Auch in anderen Ländern wird aus Trester destilliert, zum Beispiel in Deutschland, Frankreich oder Portugal. Die italienische Grappaherstellung konzentriert sich vor allem auf die Alpenrandregionen im Norden des Landes. Hier finden wir auch die meisten der wenigen kleinen Handwerks und Familienbetriebe, die heute noch bestehen, viele schon seit mehreren Generationen. Sie brennen noch nach der traditionellen, diskontinuierlichen Methode, die einen Austausch des Tresters nach jedem Brennlauf erfordert. Ihnen ist es zu verdanken, dass das dritte „M“ der goldenen Regel überhaupt noch von Relevanz ist: die Hand des Brennmeisters, die den Charakter und die Qualität des Destillats schlussendlich noch entscheidend prägen kann.
Von Pionieren und Legenden
Auch unter den kleinen gibt es große, bekannte Namen. Die Destillerien Nonino, Poli und Berta zum Beispiel, die sich auf erfolgreiches Marketing verstehen und ihren Tresterbrand als edle Qualitätsspirituose auf dem Markt zu positionieren versuchen – ohne dabei je den traditionellen Boden unter den Füßen zu verlieren.
Benito und Giannola Nonino führen im Friaul unter tatkräftiger Unterstützung ihrer drei Töchter fort, was Großvater Orazio 1897 mit einer kleinen, mobilen Brennerei begann. Die Entwicklung des rebsortenreinen Grappas gehört zu ihren Pionierleistungen und auch insgesamt trieben sie den Wandel des Grappas vom Bauernschnaps zur Edelspirituose maßgeblich voran, so dass sie sogar offiziell anerkannt wurden als „die wahren Botschafter des italienischen Grappas in der Welt“.
Nicht weit von den Noninos entfernt brennen Jacopo Poli und seine drei Geschwister in Venetien ihre Grappas, mit einer der ältesten Destillieranlagen, die heute noch im Gebrauch sind. Ebenfalls traditionell diskontinuierlich, dampfbetrieben und dabei dennoch nach modernen Qualitätsstandards wird der Tresterbrand hier bereits in vierter Generation produziert. Auch die Polis zeigen sich engagiert in der kulturellen Pflege, zum Beispiel durch die Gründung eines Grappamuseums in Bassano del Grappa, eine Stadt in Venetien, deren Name etwas zu offensichtlich eine engere Verbindung zu dem Tresterbrand suggeriert. Namensgeber ist vielmehr der Berg Monte Grappa, zu dessen Füßen sie liegt, dennoch bezeichnet man diese Stadt auch als die „Hauptstadt des Grappas“, und tatsächlich befinden sich hier und in der näheren Umgebung viele Destillerien.
So auch ein Geheimtipp, der schon fast keiner mehr ist. Der Quereinsteiger Vittorio Capovilla, eigentlich gelernter Mechaniker und der Grappatradition noch nicht einmal familiär verhaftet, begann vor etwa 25 Jahren hobbymäßig mit der Herstellung von Obstbränden, später auch Grappas – und das macht er mittlerweile so gut, dass man ihn gar den „Maestro vom Monte Grappa“ nennt. Die Etiketten der edlen und oft prämierten Brände werden aber immer noch mit der Hand beschrieben, von Capovillas Tochter.
Etwas ganz Besonderes sind die Flaschenetiketten auch bei Romano Levi, sie haben ihn berühmt gemacht. Mehr noch, zur Legende, bereits zu Lebzeiten. Der Flascheninhalt ist zwar kein garantierter
Genuss – mit antiquierten Apparaten und über offenem Feuer gebrannt, sind die Erzeugnisse von höchst unterschiedlicher Qualität, einige sehr, andere weniger gut, auf jeden Fall aber stark, mit 50 bis 60 Prozent Alkohol statt der heute eher üblichen 40. Doch nicht erst seit Levis Tod im Jahr 2008 werden für seine Grappas erstaunliche Summen geboten – vor allem eben wegen der Etiketten, die jede Flasche zum Sammlerstück machen. In den 60er Jahren begann Levi, diese selbst zu gestalten. Aus irgendeinem Papier, das er gerade zur Hand hatte, entstand ein handbeschriebenes Unikat, versehen mit Zeichnungen, zum Beispiel von Tieren, Blumen, Gesichtern oder Frauen.
Das Grappa-Eldorado in der Schweiz
Auch Beat Maier ist LeviFan. Der Schweizer kannte ihn persönlich, hatte ihn in seiner kleinen Brennerei im Piemont besucht. So hatte man wohl
auch die besten Chancen, eine der raren Flaschen zu ergattern. 30 der begehrten Exemplare hat Maier noch. Die verkauft er aber nicht, sondern verschenkt sie zu besonderen Anlässen an ausgewählte Menschen, zum Beispiel an ein Mitglied des Schweizer GrappaClubs. Den hat der Fan des Tresterbrands 2003 selber mitgegründet. Fünf Mitglieder waren es damals, heute sind es etwa 180 – es finden Seminare, Degustationen, Kochabende und Exkursionen rund um das Thema Grappa statt.
Im dazugehörigen Bistro in Richterswil am Zürichsee sind in der Bottega della Grappa über 90 verschiedene Grappas im Angebot, zum Verkosten im Offenausschank sowie zum Verkauf. Eine Seltenheit in der Gastronomie – geht man beispielsweise in Deutschland „zum Italiener“ an der Ecke, findet man dort nicht selten nur einen einzigen, namenlosen Grappa auf der Karte vor. Und auch wenn man eine Auswahl hat, dann sieht diese oft
ziemlich standardisiert aus. Die Gastronomen haben vielleicht keine Lust oder Zeit, sich intensiver mit der Auswahl zu beschäftigen, vermutet Beat Maier, mit dem SAVOIR VIVRE über das Thema Grappa sprach. Schade eigentlich, denn in Italien gibt es immerhin über 7000 verschiedene Grappas.
Unter Grappaliebhabern hat sich her umgesprochen, dass es für sie in Richterswil ein kleines Eldorado gibt, viele Deutsche kommen hier auf dem Weg in den Winterurlaub vorbei. Sie finden ein Angebot vor, das eine möglichst umfassende Auswahl bieten möchte, natürlich mit den verschiedenen Grappa-Sorten: Sowohl junge Grappas, die nur mindestens sechs Monate reifen mussten und kristallklar sind, als auch zusätzlich im Holzfass gelagerte Grappas verschiedenster Reifestufen, die neben einer bernsteinfarbenen Färbung weitere Aromen erhalten, typischerweise die von Aprikose und Vanille, und insgesamt harmonischer werden. Grappas aus den verschiedensten Rebsorten, von großen und kleinen Brennern aus allen relevanten Regionen, von denen Maier viele persönlich kennt und regelmäßig besucht. Sogar aromatisierte Grappas, denen nach der Destillation noch eine oder mehrere Botanicals hinzugefügt wurden, stehen zur Auswahl, obwohl Maier einige davon gerne als sein „Gruselkabinett“ präsentiert. Wer keine weichen Knie bekommen möchte, fährt da seiner Meinung nach mit einem traditionellen Grappa „alla ruta“ (aromatisiert mit Weinraute) besser. Vor allem für die weiblichen Besucher gibt es zudem Schokoladengrappa oder Honiggrappa.
Reine Geschmackssache
Zweifelsohne wird Grappa traditionell als Digestif genossen. Vielleicht noch als „Korrekturhilfe“ für Heißgetränke – „caffè correto“ nennen die Italiener einen solcherart modifizierten Kaffee. Aber doch keineswegs als Aperitif! Oder gar als Cocktail oder Kochzutat! Da gruselt es alle Puristen …
Doch auch Kochen mit Grappa hat eine Tradition, wenn auch vielleicht eine eher heimlich praktizierte. Vor allem in Norditalien werden viele Gerichte damit abgeschmeckt. So kann junger Grappa beispielsweise Fleisch schmackhafter machen oder Wild seine strenge Note nehmen. Bei Beat Maier ist man auch mit diesem Thema an der richtigen Adresse – mit Begeisterung trägt er verschiedenste Rezepte zusammen, präsentiert sie auf der Homepage des GrappaClubs und plant sogar die Veröffentlichung eines Kochbuchs.
Mischt man Grappa mit Fruchtsäften, mit Vermouth oder mit Likören wie Sambuca oder Amaretto, so verträgt sich der Tresterbrand damit auch gut in einem Cocktail. Die Destillerie Nardini schlägt auf ihrer Homepage sogar die zu ihren Destillaten passenden Cocktail- und auch Kochrezepte vor.
Wie auch immer ein Grappaliebhaber also sein favorisiertes Destillat genießen möchte, Hauptsache, ihm schmeckt ́s. Dem Tresterbrand ist, obgleich zur Edelspirituose ernannt, durchaus zuzutrauen, dass er seine historische Entstehung nicht vergisst und sich selber nicht zu ernst nimmt – was nicht heißen soll, dass es sich nicht lohnt, einen Grappa bewusst zu verkosten. Eine vielzitierte Anleitung hierzu findet sich in einem Buch von Luigi Odello. Im Wesentlichen kommt es beim Grappagenuss auf das richtige Glas, tulpenförmig und aus transparentem, dünnem Glas, sowie die perfekte Trinktemperatur an, 8 bis 10 °C bei jungem, 16 bis 18 °C bei reifem Grappa. Ob die von Odello empfohlene weiße Tischdecke hingegen den Genuss tatsächlich entscheidend beeinflusst, sollte vielleicht jeder selbst ausprobieren.