Einige Weine haben Namen wie aus Grimms Märchen oder der Denkstube einer Werbeagentur: Fleur de Lotus, Cool Moon, L’Extreme, QuerKopf, Minimal, Wein der Stille, Akméniné. So unterschiedlich wie sie heißen, so ungleich schmecken sie und werden sie bewertet zwischen Anbetung und Verteufelung, die Orange Wines, auch Natural Wines genannt, Vins naturels, Vini veri, Authentical Wines, Extreme Wines oder in schlichtes Deutsch übersetzt: Naturweine.
Dieser Begriff, früher einmal den als „naturrein“ etikettierten, weil nicht aufgezuckerten Cabinet-Kreszenzen vorbehalten, ist zwar seit 1971 per Gesetz verboten, aber er bezeichnet inhaltlich, den Anspruch der Hersteller an die Produktion, bei dem der Mensch nicht oder nur minimal in die Weinwerdung eingreift nach dem Leitmotiv, dass dem Wein nichts zugesetzt, aber möglichst auch nichts genommen werden soll.
Orange Wines ist im Grunde ein Hilfsbild. Der Titel bezieht sich vordergründig wohl auf die in der Regel dunklere Farbe – changierend zwischen Goldgelb, Orange und Bernstein, oft leicht rötlich angetönt – der zumeist aus weißen, seltener aus roten Trauben gekelterten Weine. Allerdings ist die Vorgangsweise keineswegs einheitlich und schon gar nicht genormt. Es gibt keine verbindliche Richtlinie, keinen allgemeingültigen Komment, nach dem gearbeitet werden soll und muss – und auch keine Kontrollinstanz. Jeder Winzer hat sein Rezept und nutzt diese Freiheit aus, oft nach dem Motto: orange ist, was mir gefällt! Das gebiert Weine zwischen gut und schlecht. Die einen begeistern durch herrische und ungezähmte Frucht, andere stinken, gnädig gesagt, sind hoffnungslos oxidiert und instabil, gleichen bestenfalls altem Sherry.
Ein konventionell geschulter Gaumen wird sowieso zuerst erschrocken zusammen zucken, wenn ihn erstmals ein typischer Orange Wein mit seiner ungestümen bis brachialen und vor allem ungewohnten Wildheit trifft. Viele Vins naturels werden ja anders vinifiziert als die herkömmlichen 99,9 Prozent aller Weltweine. Zu den Kategorien, die mehr oder weniger bei den Orange Wines eine Rolle spielen, gehören beispielsweise:
• die Spontangärung, also der Verzicht auf Reinzuchthefen zugunsten der traubeneigenen „wilden“ Weinberghefen.
• eine lange Maischephase, ähnlich wie bei Rotweinen.
• die malolaktische Gärung, auch biologischer Säureabbau genannt.
• die weitgehende oder gänzliche Vermeidung von Säurekorrektur, Schönung, Filtration sowie, besonders heikel und umstritten, der Schwefelung.
Stahl, Holz, Amphoren oder Beton
Der eine Winzer baut den Wein im Stahltank aus, der andere in Fässern aus Mondholz, das bei spezieller Gestirnkonstellation geschlagen worden ist. Beliebt ist der Ausbau in Amphoren, auch Betontanks in Eiform kommen zum Einsatz. Verpönt sind Kunstdünger, chemische Spritzmittel, ein allzu betonter Einsatz technischer Hilfsmittel im Keller. Ein typischer Orange-Winzer wird auch eine maschinelle Ernte verschmähen, die Trauben mithin per Hand lesen und, bündig formuliert, alles vermeiden, was den Wein manipuliert. Er überlässt die Verwandlung des Traubensaftes zum Wein weitgehend bis komplett – je nach seiner Philosophie – der Natur. Man kann auch sagen: dem lieben Gott.
Charakter und Tiefgang
Entsprechend different fallen die Weine aus. Sie muten archaisch an und sind auf eigenwillige Art anders. Das Duft- und Geschmacksspektrum reicht von erbärmlich und ungenießbar über alle nur denkbaren Schattierungen bis hin zu Gewächsen von grandioser Tiefe, stringenter Kraft und veritabler Terroir-Mitgift. Manche Weine sind einfach genial, zeichnen sich durch enormen Tiefgang aus, sind in sich ruhend und doch mit einer animierenden Mineralität und Lebendigkeit ausgestattet.
Winzer Josko Gravner, einer der Pioniere für Naturwein aus dem Friaul, kam geläutert von einem Besuch bei Mondavi im kalifornischen Napa zurück: „Ich war abhängig geworden von der teuren Kellertechnik und der Chemie im Weinberg.“ So denken auch andere Natural-Winzer.
Gemeinsam ist allen die Abneigung gegenüber dem in den letzten zwei, drei Jahrzehnten mächtig angeschwollenen Strom von industriell und mit vielerlei technischen sowie chemischen Hilfsmitteln produzierten Weinen, die sich weltweit ähneln, doch eines vermissen lassen, nämlich unverwechselbare Individualität. Jeder Wein wird naturgemäß aus Trauben gemacht, aber was am Ende in Flaschen gefüllt und in Supermärkten verkauft wird, gleicht häufig mehr Designersäften, die mit ihrer lauten und meist würzig-süßlich angehauchten Fruchtigkeit dem sogenannten breiten Publikumsgeschmack angepasst sind und somit eine globale Proletarisierung der Trinkkultur bewirken. Kurzum: Es findet aus Sicht der Naturwein-Winzer zunehmend und in immer rascherem Tempo eine Verkitschung der Weinwelt statt.
Eine der Ursachen für die fade Konformität des Geschmacks ist wohl, dass nicht mehr der Kellermeister, sondern immer häufiger die Marketingabteilungen über die Weinwerdung bestimmen. Diese Weine werden überall nach demselben Schema erzeugt. Und genau da haken die Natural-Winzer ein. Sie steuern, überzeugt bis provokativ, idealistisch bis ideologisch, doch naturbewusst und vorzugsweise auf bio-dynamischer Basis, gegen das an, was man gemeinhin den Mainstream nennt – eigentlich sind die Orange-Winzer radikale Biodynamiker. Es geht ihnen um die Abkehr von der Hochtechnologie hin zu mehr Natürlichkeit, im Weinberg und zumal im Keller. Dahinter steckt auch ein wenig die Suche nach der Wahrheit im Wein, jedenfalls eine Sehnsucht nach Authentizität – bemerkenswerterweise findet zeitgleich ein ähnlicher Prozess ja in der Küchenkultur statt mit dem Ruf nach Regionalität, gipfelnd in der von nordischen Köchen ausgelösten Verwendung von Moosen, Flechten, Baumrinden, Wildkräutern und allerlei anderem Grünzeug.
Kult unter Liebhabern
Wie bei den avantgardistischen Köchen finden sich auch unter den Orange-Winzern die unterschiedlichsten Charaktere. Es gibt Querdenker, Dickköpfe, liebenswerte Schwärmer, Eigenbrötler, Traumtänzer, versponnene Grünapostel und religiös verbrämte Fanatiker, aber eben auch Idealisten, die nachdenken, Traditionen überprüfend in Frage stellen und zum Ergebnis kommen, dass sie nicht länger die ausgewalzten Pfade standardisierter Weinerzeugung begehen wollen, sondern durchaus pragmatisch Neues suchen und wagen, im Sinne einer erdverbundenen Natürlichkeit. Noch sind die Weine der Orange-Winzer – schätzungsweise einige Hundert weltweit – ein Nischenprodukt, jedoch schon Kult unter Liebhabern.

Sein „2018er GOLD Orange Riesling“ besticht mit seiner schönen, herben Tiefe bei nur 10,5 Prozent Alkoholvolumen
Ob die Orange Wines eine Zukunft haben werden, hängt wohl entscheidend davon ab, wie viele Klassewinzer sich des Themas annehmen. Einige bereits praktizierende Natural-Wine-Winzer pflegen eine allzu naive, archaisch-sentimental geprägte Herangehensweise an das Thema. Andere neigen vielleicht dazu, fehlerhaft ausgebaute Weine keck und bauernschlau als „Orange“ zu etikettieren. Doch gewiss ist auch, dass es Orange Wines von achtbarer Bedeutung gibt, die sich mit Genuss trinken lassen. Dass solcherart gewonnene Weine irritieren und polarisieren, versteht sich von selbst. Umso wichtiger ist, dass der Weinfreund sich ihnen unvoreingenommen nähert.
