Es klang weihevoll wie die Segnung einer Speise. Und dann, so sagte der Mann, habe er die Sauce mit einem Löffelchen Balsamico verfeinert. Der schlank hingeworfene Satz saß. Die Tischrunde war beeindruckt, auf den Hobbykoch rollte eine Welle der Anerkennung zu. Ein Mann mit Stil! Zwar ist dieser Essigtyp aus der norditalienischen Provinz Reggio Emilia längst zum globalen Küchenstar geworden, aber es gilt zu differenzieren, denn in der Welle des Erfolgs schwabbt auch dünnflüssig jede Menge erbärmliches, künstlich mit Zucker, Farbstoffen, Mostkonzentrat und Aromaten gepanschtes Zeugs mit. Was gemeinhin unter Balsamico in den Küchen, den privaten wie professionellen, verwendet wird, hat mit dem wahren, dem Genuß verheißenden und teuren Balsamico mit dem adelnden Zusatz „Tradizionale“ nichts zu tun. Liebhaber sehen in feinstem altem Balsamico nicht essigsauer gewordenen Wein, sondern eine Philosophie!
Wenn einem also Leute erzählen, welche kulinarischen Heldentaten sie wieder einmal mit ihrem Balsamico angestellt haben, handelt es sich bei 99,9 Prozent um industriell erzeugten Essig. Der darf sich, ob rot oder weiß, wohl »Aceto Balsamico« nennen, auch mit Beiworten wie »Riserva«, »Speziale«, „Condimento“ und dergleichen schmücken, aber das ist häufig nur PR-Geklimper und keine Gewähr für Klasse. Die Fläschchen sind üppig etikettiert und auf alt getrimmt, ganz nach dem smarten Marketingmotto »Wenn der Inhalt schon nichts Besonderes ist, so laß‹ es wenigstens besonders erscheinen.« Vom echten Aceto Balsamico Tradizionale, ABT abgekürzt, trennen den Billig-Balsamico geschmackliche Welten. Es ist ein Unterschied wie zwischen Sonne und Glühwürmchen; dem echten Tradizionale begegnet man so selten wie der großen Liebe.
Balsam zwischen 12 und 25 Jahren:

Links: Die Aceto Vecchi von 1912 enthält noch Balsamico aus jener alten Zeit. Rechts: Die von Fiorgio Giugiare entworfene Flasche für den Tradizionale
In Modena (Aceto balsamico tradizionale di Modena, ABTM) wird der Balsam in das kugelig geformte Fläschchen gefüllt, entworfen vom berühmten italienischen Designer Giorgio Giugiaro. Der zwölf Jahre alte ABTM ist mit einer cremefarbenen Kapsel verschlossen, den 25jährigen krönt ein güldener Verschluß. Darüber hinaus reichende Altersangaben sind übrigens verboten, lediglich ein schlichtes „extra vecchio“ weist auf die Anciennität hin, die Würde des Alters. Den „Aceto Balsamico Traditionale di Reggio Emilia“ (ABT di RE) gibt es in drei Qualitäten: über 12 (rotes Etikett), 18 (silbernes Etikett) und 25 Jahre alt (goldenes Etikett), abgefüllt in höherschulterigen Fläschchen – original 0,1‑Liter enthaltend wie die Pretiosen aus Modena.
Das Universum des Balsamessigs ist vielfältig und auch irritierend wie ein Labyrinth. Praktisch jeder Essigmacher weltweit stellt inzwischen einen „Balsamico“ her, und darunter gibt es köstliche Werke wie etwa den Apfelbalsam aus der steirischen Manufaktur von Alois Gölles.
Ansonsten muß streng unterschieden werden. Im Schlepptau des deutschen Küchenwunders hat als »Aceto Balsamico« für wenige Euros tausendfach Eingang in Küchen und Regale der Supermärkte gefunden, aber dabei handelt es sich in der Regel um ein im Schnellverfahren hergestelltes Produkt aus Mostkonzentrat, aufgemixt mit reichlich Karamell, Zuckerkulör, Lakritze, Pflaumensaft, auch Billigessig und Fertiggewürzen nebst diversen Aromaten sowie Zusatzstoffen aus dem Labor, die faßgereiften Balsamico suggerieren sollen.
Diese billigen Plagiate mit dem vordergründigen, pappig-süßlichen Geschmack sind vom wahren Tradizionale unendlich weit entfernt, aber sie werden gekauft, weil es als ritzy gilt, mit Balsamessig zu renommieren, worüber sich Kenner die Bäuche vor Lachen halten. So ist es keine Überraschung, dass Untersuchungen im Labor ergeben haben, dass ein erheblicher Teil der im Handel angebotenen Balsamicos gar nicht oder nur teilweise aus Weintrauben hergestellt worden sind. Hingegen gab es reichlich Hinweise auf Mais und Zuckerrübe nebst den üblichen Pansch-Extrakten. Experten sprechen denn auch von einer international agierenden Agro-Mafia.
Wohl gibt es unterhalb der raren und teuren Tradizionale-Ebene achtbare Konsumware. In der Zutatenliste sollte Traubenmost an erster Stelle stehen. Die namhafte Acetaia Giuseppe Giusti vermarktet einen Mix aus Traubenmost und gereiftem Weinessig als „Aceto Balsamico di Modena“ im 0,25-Liter-Fläschchen für runde 25 Euro, Malpighi bietet seinen „Saporoso“ für 33 Euro à 0,2 Liter an. Damit lassen sich Salate delikat würzen, Ziegenkäse, Obstsalate und Gemüse marinieren sowie Bratensaucen verfeinern, nur: abtrünnig wird auf der Stelle, wer je vom echten Balsamico Tradizionale di Modena genascht hat, dessen Manko einzig der hohe Preis ist. Unter 110 Euro ist selbst vor Ort kaum ein mittelalter »Tradizionale« zu bekommen. Damit es kein Missverständnis gibt: dies gilt für das typische Eindeziliterfläschchen mit 25 Jahre altem Inhalt, versiegelt, nummeriert und mit dem Tradizionale-Gütezeichen versehen.
Geringfügig billiger ist der zwölf Jahre alte Tradizionale, dem gesetzlich vorgeschriebenem Mindestalter für einen echten Modeneser Balsamico naturale. Gegenüber einer 50jährigen Essenz nimmt sich der Zwölfjährige etwas halbstark aus, was die Dichte des Aromas und die Finesse des Geschmacks betrifft, doch ist der zwölf Jahre alte Tradizionale ein Elixier, mit dem sich küchenmäßig schon viel anstellen läßt. Das 0,1‑Liter-Flakon kostet je nach Hersteller zwischen 60 und 120 Euro, für den doppelt so alten „extra vecchio“ muß auch das Doppelte an Geld hingelegt werden. Hundert, zweihundert und mehr Jahre alte Balsamicos sind im Handel praktisch nicht zu bekommen; sie werden privat als Raritäten gehütet, von Generation zu Generation weiter gegeben und bei hohen Festlichkeiten tröpfchenweise genossen, meist pur oder zu einer speziellen Speise wie Gänseleber.
Mino Durand hat im „Corriere della Sera“ über solchen majestätischen Balsamessig von unschätzbarem Wert geschrieben: „Er ist so teuer wie flüssiges Gold, aber noch wertvoller, und wer ihn besitzt, verkauft ihn nicht, er behält ihn für sich, für seine Kinder und Enkel, für seinen teuersten Freund. Er kann ihn wohl dem Chirurgen schenken, der mitten in der Nacht aufsteht, um seine Frau wegen einer Bauchfellentzündung operieren zu müssen, und der, zurückgekehrt aus dem fahlblauen Licht des Operationssaals, kein Geld annehmen will, sondern nur ein Fläschchen des uralten Elixiers.“
Gewürz, Aroma und Magenfreund
Im „Bacchus“, einem italienischen Gourmet-Magazin, hat Burton Anderson „nach einem überreichlichen Essen“ einen alten Balsamico gerühmt: „Wir hatten mindestens acht Gänge und ebensoviel verschiedene Weine hinter uns. Als es endlich Zeit war, sich zu trennen, brachte der Gastgeber jedem einen Teelöffel und goß jedem mit Liebe ein paar Tropfen eines sehr alten Balsamico ein. Das war das, was die Angelsachsen ‘a nightcap‘ nennen, eine Zipfelmütze zum Einschafen.“
Ein 50 Jahre alter ABT ist tiefdunkel in der Farbe mit goldbraunem seidigem Schimmer. Sirupartig fließt er gemächlich aus dem Flakon, intensiv und angenehm duftend wie alter, mit Rübenmelasse versetzter Wein. Süßes und Saures sind innig miteinander verwoben, in perfekter Harmonie. Der Geschmack ist mild und zugleich von tiefer, reich nuancierter Aromatik. Gibt man einen Tropfen davon auf den Handrücken, zerläuft der nicht, sondern beweist seine Echtheit, indem er als glänzende Perle stehen bleibt. Alles Grobe hat sich im Laufe der langjährigen Lagerung in den diversen Holzfässern verflüchtigt; geblieben ist ein dichtes Konzentrat von sirupartiger Konsistenz und distinguierter Süße, die nichts Klebriges an sich hat und das es in dieser Art nicht noch einmal gibt auf der Welt. Solcher Tradizionale ist so kostbar wie ein großer Wein und teurer als Kaviar.
Der hohe Preis wird durch die aufwendige, seit Jahrhunderten geübte Herstellung verständlich. Als Grundstoff dient vorzugsweise der dickliche und süßliche Most aus der weißen, in der Regel spät und hochreif gelesenen Trebbiano-Traube. Der wird durch Tücher filtriert und in einem Kessel aus Kupfer oder Stahl langsam geköchelt, zwölf Stunden und länger, bis sich die Flüssigkeit um ein gutes Drittel reduziert, sich buchstäblich einbalsamiert hat. Nach dem Abkühlen wird der ambrafarbene Saft erst in Glasballons und danach in Fässer unterschiedlicher Größe und Holzsorte gefüllt, wo er ungefähr ein Jahr lang in aller Ruhe vergärt, natürlich infiziert durch Essigbakterien, „madre dell‘ aceto“ genannt oder „madrana“, also Essigmutter auf Deutsch, die das von Haus aus süße Traubenkonzentrat in »Essig« umwandeln. Dieser Prozeß vollzieht sich ohne die – übrigens strikt verbotene – Zugabe fremder Substanzen, ausgenommen eben die Essigmutter.
Nun kommt die Zeit der langen Reife. In seiner Laufbahn durchläuft der Balsamico geruhsam die gesamte »Batteria« aus sechs, zehn und mehr Fässern, beginnend im größten von 50, 60 oder auch 100 Litern und nach Jahren endend im kleinsten, das zwischen dreizehn und zwanzig Litern misst – ein Prozeß, der dem Solera-Verfahren beim Sherry ähnelt. Dazwischen liegt das Geheimnis der Herstellung, die neben Erfahrung viel Gefühl erfordert, um den Essig sozusagen im Zaum zu halten und die jeweils individuell gewünschte Balance zwischen Süße und Säure zu erreichen.
Über den wichtigen Faktor Zeit hat Giuseppe Giusti, der Essighändler, 1863 in einer Botschaft für die Teilnehmer der Landwirtschaftsmesse in Modena folgendes geschrieben: „Die kürzeste Zeit, um den Most in Essig zu verwandeln, beträgt drei Jahre. Nach zehn Jahren kann man ihn als guten ‚aceto‘ bezeichnen, nach 30 Jahren ist er viel besser. Erst nach 50 Jahren bekommt er jenes Aroma und jenen vorzüglichen Geschmack, so dass er das Beiwort ‚balsamico‘ verdient. Aceto Balsamico von 100 und mehr Jahren ist von höchster Qualität.“
Kenner schätzen, dass etwa tausend Familien in der Region traditionell einen Balsamico zubereiten; davon gehören rund 300 dem Consorzio an. Jeder Tradizionale muß von Mitgliedern des Consorzio genannten Herstellerverbandes, den »maestri«, hinsichtlich Farbe, Duft und Geschmack geprüft werden, bevor er das begehrte Qualitätssiegel erhält. „Von hundert balsamischen Essigen gleicht keiner dem anderen«, bestätigt ein Prüfer. Jeder Produzent hat seine spezielle Rezeptur. Es ist keine Seltenheit, dass nur ein Teil der zur kritischen Degustation eingereichten Balsamicos das Reifezeugnis bekommt. Was den strengen Verkostern, zumeist erfahrene Wein- und Essig-Sommeliers, nicht würdig genug erscheint, als Tradizionale vermarktet zu werden, muß zurück in die Fässer zu weiterer Reifung oder darf eben nicht als »Tradizionale« verkauft werden. Pro Jahr werden im Schnitt nur etwa 10 000 Liter Balsamico als Tradizionale ausgezeichnet, wohingegen industriell produzierter Balsamessig millionenfach in die Märkte geschwemmt wird.
Angewandte Essig-Philosophie:
Der Essig-Kosmos ist von verwirrender Vielfalt und es ist reizvoll, ja spannend, sich eines der ältesten Würzmittel kultiviert zu bedienen. Es hängt von der Speise ab und vom Anlaß, welcher Essigtyp die ideale Wahl ist. Ein feiner Rotweinessig oder alter Sherryessig würzt eben anders als ein Balsamico. Estragonessig macht sich beispielsweise besonders gut zu Sauce Béarnaise, Apfelessig verbessert jeden Obstsalat, Kräuteressige passen zu Gemüseragouts, Schalottenessig hebt das Aroma einer Buttersauce, der klassischen Beurre blanc. Himbeeressig harmoniert fein mit Wildgerichten, Sherryessig oder Kirschessig unterstreicht bei Rind, Geflügel und Fisch das Aroma, Johannisbeeressig paßt zu Schokoladigem, während eine gebratene Geflügelleber oder ein Kalbsbries durch einen Balsamico Tradizionale eine mit Worten nur unzulänglich zu beschreibende Finesse bekommt.
In der Küche lässt sich mit einem authentischen Balsamico viel anfangen. Der Kenner und Liebhaber, der über eine erlesene Kollektion unterschiedlicher Sorten der dunklen Essenz verfügt, kann wählen, welchen Typ er zum Kalbsschnitzel, zu Hummer oder zu Erdbeeren nimmt. Generell gilt, dass ein Tradizionale als Apero ebenso stilvoll ist wie als Würze zu Grilladen, Rohschinken bester Herkunft und Teigwaren – tröpfchenweise portioniert, schließlich ist das Elixier hocharomatisch. Franco Colombani, ein Philosoph des Balsamico und Hüter kostbarer alter und sehr alter Kostbarkeiten, hat dazu folgende Empfehlung gegeben: „Rara avis in vulgo commendata“, was frei übersetzt so viel heißt wie: Ich kann nur raten, ihn sparsam zu verwenden.
Und abseits von küchenpolitischen Ehen ist ein diskretes Löffelchen Balsamico pur am Morgen das ideale Stimulans, um den Tag schwungvoll zu beginnen und Pläne zu schmieden.

Das Feinkostgeschäft an der VIA FORINI in Modena ist auch eine gute Adresse für Balsamicos