Balsamico: Vielfalt zwischen plumpem Plagiat und feinstem Genuß

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 7 Minuten

Es klang weihevoll wie die Segnung einer Speise. Und dann, so sagte der Mann, habe er die Sauce mit einem Löffelchen Balsamico verfeinert. Der schlank hinge­worfene Satz saß. Die Tisch­runde war beein­druckt, auf den Hobbykoch rollte eine Welle der Anerkennung zu. Ein Mann mit Stil! Zwar ist dieser Essigtyp aus der nordita­lie­ni­schen Provinz Reggio Emilia längst zum globalen Küchenstar geworden, aber es gilt zu diffe­ren­zieren, denn in der Welle des Erfolgs schwabbt auch dünnflüssig jede Menge erbärm­liches, künstlich mit Zucker, Farbstoffen, Mostkon­zentrat und Aromaten gepanschtes Zeugs mit. Was gemeinhin unter Balsamico in den Küchen, den privaten wie profes­sio­nellen, verwendet wird, hat mit dem wahren, dem Genuß verhei­ßenden und teuren Balsamico mit dem adelnden Zusatz „Tradi­zionale“ nichts zu tun. Liebhaber sehen in feinstem altem Balsamico nicht essig­sauer gewor­denen Wein, sondern eine Philo­sophie!

Wenn einem also Leute erzählen, welche kulina­ri­schen Helden­taten sie wieder einmal mit ihrem Balsamico angestellt haben, handelt es sich bei 99,9 Prozent um indus­triell erzeugten Essig. Der darf sich, ob rot oder weiß, wohl »Aceto Balsamico« nennen, auch mit Beiworten wie »Riserva«, »Speziale«, „Condi­mento“ und dergleichen schmücken, aber das ist häufig nur PR-Geklimper und keine Gewähr für Klasse. Die Fläschchen sind üppig etiket­tiert und auf alt getrimmt, ganz nach dem smarten Marke­ting­motto »Wenn der Inhalt schon nichts Beson­deres ist, so laß‹ es wenigstens besonders erscheinen.« Vom echten Aceto Balsamico Tradi­zionale, ABT abgekürzt, trennen den Billig-Balsamico geschmack­liche Welten. Es ist ein Unter­schied wie zwischen Sonne und Glühwürmchen; dem echten Tradi­zionale begegnet man so selten wie der großen Liebe.

Balsam zwischen 12 und 25 Jahren:

Links: Die Aceto Vecchi von 1912 enthält noch Balsamico aus jener alten Zeit. Rechts: Die von Fiorgio Giugiare entworfene Flasche für den Tradizionale

Links: Die Aceto Vecchi von 1912 enthält noch Balsamico aus jener alten Zeit. Rechts: Die von Fiorgio Giugiare entworfene Flasche für den Tradi­zionale

In Modena (Aceto balsamico tradi­zionale di Modena, ABTM) wird der Balsam in das kugelig geformte Fläschchen gefüllt, entworfen vom berühmten italie­ni­schen Designer Giorgio Giugiaro. Der zwölf Jahre alte ABTM ist mit einer creme­far­benen Kapsel verschlossen, den 25jährigen krönt ein güldener Verschluß. Darüber hinaus reichende Alters­an­gaben sind übrigens verboten, lediglich ein schlichtes „extra vecchio“ weist auf die Ancien­nität hin, die Würde des Alters. Den „Aceto Balsamico Tradi­tionale di Reggio Emilia“ (ABT di RE) gibt es in drei Quali­täten: über 12 (rotes Etikett), 18 (silbernes Etikett) und 25 Jahre alt (goldenes Etikett), abgefüllt in höher­schul­te­rigen Fläschchen – original 0,1‑Liter enthaltend wie die Pretiosen aus Modena.

 

Das Universum des Balsam­essigs ist vielfältig und auch irritierend wie ein Labyrinth. Praktisch jeder Essig­macher weltweit stellt inzwi­schen einen „Balsamico“ her, und darunter gibt es köstliche Werke wie etwa den Apfel­balsam aus der steiri­schen Manufaktur von Alois Gölles.

Ansonsten muß streng unter­schieden werden. Im Schlepptau des deutschen Küchen­wunders hat als »Aceto Balsamico« für wenige Euros tausendfach Eingang in Küchen und Regale der Super­märkte gefunden, aber dabei handelt es sich in der Regel um ein im Schnell­ver­fahren herge­stelltes Produkt aus Mostkon­zentrat, aufgemixt mit reichlich Karamell, Zucker­kulör, Lakritze, Pflau­mensaft, auch Billig­essig und Fertig­ge­würzen nebst diversen Aromaten sowie Zusatz­stoffen aus dem Labor, die faßge­reiften Balsamico sugge­rieren sollen.

Diese billigen Plagiate mit dem vorder­grün­digen, pappig-süßlichen Geschmack sind vom wahren Tradi­zionale unendlich weit entfernt, aber sie werden gekauft, weil es als ritzy gilt, mit Balsam­essig zu renom­mieren, worüber sich Kenner die Bäuche vor Lachen halten. So ist es keine Überra­schung, dass Unter­su­chungen im Labor ergeben haben, dass ein erheb­licher Teil der im Handel angebo­tenen Balsa­micos gar nicht oder nur teilweise aus Weintrauben herge­stellt worden sind. Hingegen gab es reichlich Hinweise auf Mais und Zuckerrübe nebst den üblichen Pansch-Extrakten. Experten sprechen denn auch von einer inter­na­tional agierenden Agro-Mafia.

Wohl gibt es unterhalb der raren und teuren Tradi­zionale-Ebene achtbare Konsumware. In der Zutaten­liste sollte Traubenmost an erster Stelle stehen. Die namhafte Acetaia Giuseppe Giusti vermarktet einen Mix aus Traubenmost und gereiftem Weinessig als „Aceto Balsamico di Modena“ im 0,25-Liter-Fläschchen für runde 25 Euro, Malpighi bietet seinen „Saporoso“ für 33 Euro à 0,2 Liter an. Damit lassen sich Salate delikat würzen, Ziegenkäse, Obstsalate und Gemüse marinieren sowie Braten­saucen verfeinern, nur: abtrünnig wird auf der Stelle, wer je vom echten Balsamico Tradi­zionale di Modena genascht hat, dessen Manko einzig der hohe Preis ist. Unter 110 Euro ist selbst vor Ort kaum ein mittel­alter »Tradi­zionale« zu bekommen. Damit es kein Missver­ständnis gibt: dies gilt für das typische Einde­zi­li­ter­fläschchen mit 25 Jahre altem Inhalt, versiegelt, numme­riert und mit dem Tradi­zionale-Gütezeichen versehen.

Gering­fügig billiger ist der zwölf Jahre alte Tradi­zionale, dem gesetzlich vorge­schrie­benem Mindest­alter für einen echten Modeneser Balsamico naturale. Gegenüber einer 50jährigen Essenz nimmt sich der Zwölf­jährige etwas halbstark aus, was die Dichte des Aromas und die Finesse des Geschmacks betrifft, doch ist der zwölf Jahre alte Tradi­zionale ein Elixier, mit dem sich küchen­mäßig schon viel anstellen läßt. Das 0,1‑Liter-Flakon kostet je nach Hersteller zwischen 60 und 120 Euro, für den doppelt so alten „extra vecchio“ muß auch das Doppelte an Geld hingelegt werden. Hundert, zweihundert und mehr Jahre alte Balsa­micos sind im Handel praktisch nicht zu bekommen; sie werden privat als Raritäten gehütet, von Generation zu Generation weiter gegeben und bei hohen Festlich­keiten tröpf­chen­weise genossen, meist pur oder zu einer spezi­ellen Speise wie Gänse­leber.

Mino Durand hat im „Corriere della Sera“ über solchen majes­tä­ti­schen Balsam­essig von unschätz­barem Wert geschrieben: „Er ist so teuer wie flüssiges Gold, aber noch wertvoller, und wer ihn besitzt, verkauft ihn nicht, er behält ihn für sich, für seine Kinder und Enkel, für seinen teuersten Freund. Er kann ihn wohl dem Chirurgen schenken, der mitten in der Nacht aufsteht, um seine Frau wegen einer Bauch­fell­ent­zündung operieren zu müssen, und der, zurück­ge­kehrt aus dem fahlblauen Licht des Opera­ti­ons­saals, kein Geld annehmen will, sondern nur ein Fläschchen des uralten Elixiers.“

Gewürz, Aroma und Magen­freund

Im „Bacchus“, einem italie­ni­schen Gourmet-Magazin, hat Burton Anderson „nach einem überreich­lichen Essen“ einen alten Balsamico gerühmt: „Wir hatten mindestens acht Gänge und ebensoviel verschiedene Weine hinter uns. Als es endlich Zeit war, sich zu trennen, brachte der Gastgeber jedem einen Teelöffel und goß jedem mit Liebe ein paar Tropfen eines sehr alten Balsamico ein. Das war das, was die Angel­sachsen ‘a nightcap‘ nennen, eine Zipfel­mütze zum Einschafen.“

Ein 50 Jahre alter ABT ist tiefdunkel in der Farbe mit goldbraunem seidigem Schimmer. Sirup­artig fließt er gemächlich aus dem Flakon, intensiv und angenehm duftend wie alter, mit Rüben­me­lasse versetzter Wein. Süßes und Saures sind innig mitein­ander verwoben, in perfekter Harmonie. Der Geschmack ist mild und zugleich von tiefer, reich nuancierter Aromatik. Gibt man einen Tropfen davon auf den Handrücken, zerläuft der nicht, sondern beweist seine Echtheit, indem er als glänzende Perle stehen bleibt. Alles Grobe hat sich im Laufe der langjäh­rigen Lagerung in den diversen Holzfässern verflüchtigt; geblieben ist ein dichtes Konzentrat von sirup­ar­tiger Konsistenz und distin­gu­ierter Süße, die nichts Klebriges an sich hat und das es in dieser Art nicht noch einmal gibt auf der Welt. Solcher Tradi­zionale ist so kostbar wie ein großer Wein und teurer als Kaviar.

Der hohe Preis wird durch die aufwendige, seit Jahrhun­derten geübte Herstellung verständlich. Als Grund­stoff dient vorzugs­weise der dickliche und süßliche Most aus der weißen, in der Regel spät und hochreif gelesenen Trebbiano-Traube. Der wird durch Tücher filtriert und in einem Kessel aus Kupfer oder Stahl langsam geköchelt, zwölf Stunden und länger, bis sich die Flüssigkeit um ein gutes Drittel reduziert, sich buchstäblich einbal­sa­miert hat. Nach dem Abkühlen wird der ambra­farbene Saft erst in Glasballons und danach in Fässer unter­schied­licher Größe und Holzsorte gefüllt, wo er ungefähr ein Jahr lang in aller Ruhe vergärt, natürlich infiziert durch Essig­bak­terien, „madre dell‘ aceto“ genannt oder „madrana“, also Essig­mutter auf Deutsch, die das von Haus aus süße Trauben­kon­zentrat in »Essig« umwandeln. Dieser Prozeß vollzieht sich ohne die – übrigens strikt verbotene – Zugabe fremder Substanzen, ausge­nommen eben die Essig­mutter.

Nun kommt die Zeit der langen Reife. In seiner Laufbahn durch­läuft der Balsamico geruhsam die gesamte »Batteria« aus sechs, zehn und mehr Fässern, beginnend im größten von 50, 60 oder auch 100 Litern und nach Jahren endend im kleinsten, das zwischen dreizehn und zwanzig Litern misst – ein Prozeß, der dem Solera-Verfahren beim Sherry ähnelt. Dazwi­schen liegt das Geheimnis der Herstellung, die neben Erfahrung viel Gefühl erfordert, um den Essig sozusagen im Zaum zu halten und die jeweils indivi­duell gewünschte Balance zwischen Süße und Säure zu erreichen.

Über den wichtigen Faktor Zeit hat Giuseppe Giusti, der Essig­händler, 1863 in einer Botschaft für die Teilnehmer der Landwirt­schafts­messe in Modena folgendes geschrieben: „Die kürzeste Zeit, um den Most in Essig zu verwandeln, beträgt drei Jahre. Nach zehn Jahren kann man ihn als guten ‚aceto‘ bezeichnen, nach 30 Jahren ist er viel besser. Erst nach 50 Jahren bekommt er jenes Aroma und jenen vorzüg­lichen Geschmack, so dass er das Beiwort ‚balsamico‘ verdient. Aceto Balsamico von 100 und mehr Jahren ist von höchster Qualität.“

Kenner schätzen, dass etwa tausend Familien in der Region tradi­tionell einen Balsamico zubereiten; davon gehören rund 300 dem Consorzio an. Jeder Tradi­zionale muß von Mitgliedern des Consorzio genannten Herstel­ler­ver­bandes, den »maestri«, hinsichtlich Farbe, Duft und Geschmack geprüft werden, bevor er das begehrte Quali­täts­siegel erhält. „Von hundert balsa­mi­schen Essigen gleicht keiner dem anderen«, bestätigt ein Prüfer. Jeder Produzent hat seine spezielle Rezeptur. Es ist keine Seltenheit, dass nur ein Teil der zur kriti­schen Degus­tation einge­reichten Balsa­micos das Reife­zeugnis bekommt. Was den strengen Verkostern, zumeist erfahrene Wein- und Essig-Somme­liers, nicht würdig genug erscheint, als Tradi­zionale vermarktet zu werden, muß zurück in die Fässer zu weiterer Reifung oder darf eben nicht als »Tradi­zionale« verkauft werden. Pro Jahr werden im Schnitt nur etwa 10 000 Liter Balsamico als Tradi­zionale ausge­zeichnet, wohin­gegen indus­triell produ­zierter Balsam­essig millio­nenfach in die Märkte geschwemmt wird.

Angewandte Essig-Philo­sophie:

Der Essig-Kosmos ist von verwir­render Vielfalt und es ist reizvoll, ja spannend, sich eines der ältesten Würzmittel kulti­viert zu bedienen. Es hängt von der Speise ab und vom Anlaß, welcher Essigtyp die ideale Wahl ist. Ein feiner Rotwein­essig oder alter Sherry­essig würzt eben anders als ein Balsamico. Estra­go­nessig macht sich beispiels­weise besonders gut zu Sauce Béarnaise, Apfel­essig verbessert jeden Obstsalat, Kräuter­essige passen zu Gemüse­ra­gouts, Schalot­ten­essig hebt das Aroma einer Butter­sauce, der klassi­schen Beurre blanc. Himbeer­essig harmo­niert fein mit Wildge­richten, Sherry­essig oder Kirsch­essig unter­streicht bei Rind, Geflügel und Fisch das Aroma, Johan­nis­beer­essig paßt zu Schoko­la­digem, während eine gebratene Geflü­gel­leber oder ein Kalbs­bries durch einen Balsamico Tradi­zionale eine mit Worten nur unzulänglich zu beschrei­bende Finesse bekommt.

In der Küche lässt sich mit einem authen­ti­schen Balsamico viel anfangen. Der Kenner und Liebhaber, der über eine erlesene Kollektion unter­schied­licher Sorten der dunklen Essenz verfügt, kann wählen, welchen Typ er zum Kalbs­schnitzel, zu Hummer oder zu Erdbeeren nimmt. Generell gilt, dass ein Tradi­zionale als Apero ebenso stilvoll ist wie als Würze zu Grilladen, Rohschinken bester Herkunft und Teigwaren – tröpf­chen­weise portio­niert, schließlich ist das Elixier hocharo­ma­tisch. Franco Colombani, ein Philosoph des Balsamico und Hüter kostbarer alter und sehr alter Kostbar­keiten, hat dazu folgende Empfehlung gegeben: „Rara avis in vulgo commendata“, was frei übersetzt so viel heißt wie: Ich kann nur raten, ihn sparsam zu verwenden.

Und abseits von küchen­po­li­ti­schen Ehen ist ein diskretes Löffelchen Balsamico pur am Morgen das ideale Stimulans, um den Tag schwungvoll zu beginnen und Pläne zu schmieden.

Das Feinkost­ge­schäft an der VIA FORINI in Modena ist auch eine gute Adresse für Balsa­micos

 

 

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