Mit Glykol und Zucker gegen die Krise: Der Weinskandal von 1985 erschütterte Österreich, Deutschland und die internationale Weinwelt – und veränderte das Verständnis von Qualität und Kontrolle nachhaltig. Ein Skandal, der den Wein besser machte
Im Sommer 1985 platzte eine Bombe, die noch Jahrzehnte nachhallte: Österreichische und deutsche Weinerzeuger hatten Millionen Liter Wein mit Diethylenglykol, besser bekannt als Frostschutzmittel, und mit Flüssigzucker manipuliert. Ziel war es, billigen Tafelwein in begehrte, hochpreisige Prädikatsweine zu „veredeln“ und so die damals herrschende Absatzkrise zu umgehen. Es war der Beginn des größten Weinskandals der Nachkriegszeit – und eine Zeitenwende für den europäischen Weinbau.
Zeitzeuge erinnert sich
Ein Verkäufer, der damals im Direktvertrieb von Wein tätig war, beschreibt die dramatische Situation so: „Ich saß gerade bei einem Kunden zur Weinprobe, als im Fernsehen die Nachricht lief, dass genau vor dem Wein gewarnt wurde, den ich in diesem Moment einschenkte.“
Der Weg in die Krise
Schon Anfang der 1970er-Jahre begann der Pro-Kopf-Weinkonsum in Österreich und Deutschland stark zu sinken: Lag er Anfang der 1960er-Jahre noch bei über 45 Litern pro Person und Jahr, ging er rapide zurück. Weinbaupolitiker und ‑verbände setzten auf Werbekampagnen und Produktionssteigerung, doch der Markt nahm die immer größeren Mengen einfacher Alltagsweine nicht mehr auf. Die Folge: Überproduktion, Preisdruck, Verzweiflung.
Besonders in Österreich wollten Winzer den Preis pro Liter steigern und sahen eine Chance im Exportgeschäft mit Deutschland. Dort war die Nachfrage nach restsüßen, hochwertigen Prädikatsweinen groß – und kaum jemand prüfte die Echtheit der Qualität. Das öffnete Tür und Tor für massive Fälschungen.
Frostschutz im Wein – und keiner merkte es
Um den gewünschten „Extraktwert“ vorzutäuschen und billige Weine süßer, vollmundiger und hochwertiger erscheinen zu lassen, griffen manche Winzer ab Ende der 1970er-Jahre zu Diethylenglykol, einer Chemikalie, die als Frostschutzmittel bekannt ist. Sie schmeckte süß, erhöhte die Viskosität und ließ Weine wie edelsüße Auslesen oder Beerenauslesen wirken – obwohl sie aus einfachem Tafelwein bestanden.
Diese Praxis blieb jahrelang unentdeckt. Erst ein anonymer Hinweisgeber brachte im Dezember 1984 eine manipulierte Weinprobe mit dem Verdacht auf Glykol zur Landwirtschaftlich-Chemischen Bundesanstalt in Wien. Der Nachweis gelang Anfang 1985. Am 23. April 1985 informierte der österreichische Landwirtschaftsminister die Öffentlichkeit – und löste damit einen medialen und politischen Sturm aus.
Der Skandal schwappt nach Deutschland
Weil große Mengen dieser gepanschten Weine nach Deutschland exportiert worden waren, erreichte der Skandal innerhalb weniger Wochen auch dort eine neue Dimension. Über 147.000 Hektoliter österreichischer Wein waren 1985 bereits importiert. Erste Hinweise auf Fälschungen lagen den Behörden in Rheinland-Pfalz seit April vor, doch es dauerte bis Juli, bis umfassende Untersuchungen und Rückrufe anliefen.
Die Liste der betroffenen Importeure war prominent: Namen wie Niederthäler Hof, Peter Lang oder Walter Seidel tauchten immer wieder in den Medien auf. Gleichzeitig wurden auch deutsche Weingüter selbst ins Visier genommen: Untersuchungen zeigten, dass sie ihre eigenen Weine mit glykolbelasteten Importen verschnitten oder mit Flüssigzucker zu überhöhten Qualitätsstufen gepanscht hatten. Zwischen 1974 und 1978 soll in deutschen Anbaugebieten deutlich mehr Prädikatswein verkauft worden sein, als die Erntemengen hergaben.
Medienhysterie und politische Folgen
Die Berichterstattung erreichte ihren Höhepunkt, als die „Bild“-Zeitung am 12. Juli 1985 titelte: „Frostschutzwein bei Omas Geburtstag – 11 vergiftet“. Die Meldung stellte sich als Falschmeldung heraus, doch der Schaden war angerichtet: Verbraucher misstrauten dem gesamten Weinmarkt. Der Export österreichischer Weine nach Deutschland brach innerhalb eines Jahres um über 90 Prozent ein. Auch viele unschuldige deutsche Familienbetriebe gerieten in Verruf und mussten massive Umsatzeinbußen verkraften.
Politisch hatte der Skandal erhebliche Konsequenzen: Beamte in Österreich und Deutschland verloren ihre Posten, Minister mussten sich heftiger Kritik stellen. Der Skandal machte klar, dass bestehende Kontrollen völlig unzureichend waren.
Jahrzehntelange juristische Aufarbeitung
Die juristische Aufarbeitung dauerte über ein Jahrzehnt: In Deutschland wurden über 2.600 Strafverfahren eröffnet, allein am Mainzer Landgericht richtete man eine eigene Weinstrafkammer ein. Berühmt-berüchtigt wurde der Prozess gegen die Brüder Schmitt von der Mosel, die mit mehr als 600 Tonnen Flüssigzucker etwa zehn Millionen Liter Wein gefälscht hatten. Sie erhielten Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Der medienwirksame Prozess gegen die Kellerei Pieroth endete 1994 mit einer Verfahrenseinstellung gegen eine Millionenzahlung, da ein vorsätzliches Handeln nicht ausreichend nachgewiesen werden konnte.
Ein Skandal, der den Wein besser machte
So verheerend der Skandal auch war – er war ein Weckruf. In Österreich führte er zur umfassenden Reform des Weingesetzes, das seit 1986 strengste Qualitätskontrollen, klare Herkunftsbezeichnungen und ein neues Prädikatsweinsystem vorsieht. Auch Deutschland schärfte Gesetze und Kontrollen erheblich. Der Skandal gilt deshalb als „Mutter aller Lebensmittelskandale“ (Peter Schelling, „Welt“, 2010), die erstmals eine breite Debatte über Lebensmittelsicherheit, Echtheit und Verbraucherschutz auslöste.
Viele ältere Winzer zogen sich zurück und machten Platz für ihre Kinder, die mit Leidenschaft und frischem Mut das „Weinwunder Österreich“ entfachten. Sie kelterten Weine, die das Land mit neuem Stolz erfüllten und weltweit Bewunderung fanden. Auch deutsche Winzer wagten den Neuanfang, setzten kompromisslos auf Qualität und brachten Weine hervor, die in der internationalen Spitzenklasse mitspielten und das Vertrauen der Genießer zurückeroberten.
40 Jahre später hat der Weinskandal damit wesentlich zu einem besseren Verständnis von Wein als hochwertigem Kulturgut beigetragen. Die strengen Kontrollen, die heute selbstverständlich sind, und die hohe Wertschätzung für klare Herkunft und authentische Qualität sind direkte Konsequenzen aus den bitteren Erfahrungen von 1985.