Ah – jetzt ja! – eine Insel!

22.12.2023
Christian Ruemmelein

Lesedauer: 7 Minuten

Mär. / Apr. 2018

Gemessen an der Insel von Jim Knopf hat Madeira zwar keine Eisenbahn, dafür aber statt nur zwei Bergen eher Hunderte, steil abfallend in tiefe Schluchten; „viel Tunnels“ hat es daher in jedem Fall auch! Bereits am Flughafen von Funchal – hoch über dem Meer an den Klippen in die See ragend – erstaunt den Erstbe­sucher ein Relief der Insel, das die bergige, zerklüftete Landschaft beein­dru­ckend darstellt. Der Flughafen liegt im Südosten, von dort geht meine Reise zunächst an der Ostspitze vorbei nach Norden, zu einem bekannten Wein-Hotel nach Santana. Es ist die Zeit des großen Weinfes­tivals, das auf Madeira zwei Wochen im September statt­findet. Die Vorfreude ist groß, schließlich ist die Insel der beliebte Klassiker des gemäßigten Klimas, mit ganzjäh­rigen Tempe­ra­turen um die 20–25 °C, was auf Sonne pur schließen lässt. Schnell wird aller­dings klar, dass es hier durchaus verschie­denste Klima­zonen gibt. 

Während sich die Südseite der Haupt-insel als Sonnen­seite präsen­tiert, mit einem Großteil der Weinberge und Obstplan­tagen, so ziehen sich an der Nordseite Wolken und Nebel­bänke zusammen, die für feuchtes und auf den Bergen der Insel auch kaltes Klima sorgen. In der Mitte der Insel dominieren steile Berge und tiefe Täler, an einigen Stellen unter­brochen von Hochebenen. 

Levadas – Lebensader nicht nur für Wander­tou­rismus

Das Ungleich­ge­wicht zwischen feuchtem Norden und trockenem Süden erkannten bereits die ersten Siedler vor hunderten von Jahren. Sie legten ein umfang­reiches Netz von Bewäs­se­rungs­ka­nälen an, die von den Quellen und Bächen der Berghänge bis in die Anbau­ge­biete der Insel führten. Diese „Levadas“ werden noch heute in verschie­denster Form genutzt. Dem wander­freu­digen Reisenden erschließt sich jedoch zumeist das System der Levadas in den Dutzenden von Wander­wegen entlang verschie­dener, meist uralter Kanäle in den Gebirgs­ge­genden der Insel. 

Hierüber gibt es zahlreiche Reise­führer und vor Ort Levada-Karten, auf denen neben den Routen auch wichtige Ratschläge zu Sicherheit und Ausrüstung gegeben werden. Denn während einige Wege selbst für Rollstuhl­fahrer geeignet sind, stellen andere selbst für geübte Wanderer ein ziemliches Abenteuer dar. Angesichts teils extrem steiler Berghänge, an deren Kanten neben den an den Felsen entlang laufenden Kanälen oft nur noch eine schmale Stein­mauer den Wanderer vom Abgrund trennt, sollte man die Hinweise durchaus ernst nehmen. Zum Glück gibt es aber eine große Auswahl von Levada-Wegen, viele davon sind auch einfach und in kurzer Zeit zu erwandern. An den Wegen wächst wild und ganz selbst­ver­ständlich eine Vielzahl von Blumen, die der Insel einen der Beinamen gegeben haben. 

Wer abseits der Wander-Levadas die Augen offenhält, der findet die kleinen Kanäle heute auch in Obst- und Weinbergen wieder; der ursprüng­liche Zweck ist also keines­falls aus der Mode gekommen. 

Größere Anbau­flächen sucht man auf der Insel vergeblich – zu zerklüftet ist die Landschaft, und so werden die landwirt­schaft­lichen Produkte von unzäh­ligen Klein­bauern angebaut und von Koope­ra­tiven aufge­kauft und weiter verar­beitet. Die in Terrassen oder an Steil­hängen verlau­fenden Pflan­zungen offen­baren sich auch dem Reisenden deshalb nicht sofort. Und das gilt nicht nur für Weinberge, von denen man ohnehin angesichts des Nischen­pro­duktes „Madeira-Wein“ nicht viele erwartet.

Europas einziger „Festland-Rum“

Doch zunächst soll nicht vom Wein die Rede sein. Verfügt doch Madeira über ein anderes beliebtes Getränk, dessen Produktion man eigentlich erst viel weiter westlich vermutet.

Madeira war bereits für Columbus ein wichtiger Versor­gungs-Stopp auf der Seereise nach Westindien. Auch für den Handel der Portu­giesen war die Insel bedeutsam; das Zuckerrohr nahm jedoch den entge­gen­ge­setzten Weg. Ursprünglich behei­matet in Asien, gelangte es über das Mittelmeer schließlich nach Madeira, wo es sehr gut gedieh. Erst später wurde es auch in der Karibik und in Mittel- und Südamerika einge­führt. Mit der Zeit wurde neben der Zucker­ge­winnung bald auch der „Aguar­dente de Cana“, der Zuckerrohr-Brand, herge­stellt. So ist es eigentlich nicht überra­schend, dass es noch heute auf Madeira zwei Brenne­reien gibt, die vornehmlich Rum, aber auch andere Varianten des Zucker­rohr­schnapses herstellen. Rund 200 Familien leben noch heute auf Madeira vom Zuckerrohr-Anbau! Rum, Poncha, Liköre und der Export halten den früher sehr dominie­renden Wirtschafts­zweig am Leben, nachdem die Importe aus der Neuen Welt den Zucker­handel Madeiras nahezu verdängten.

Auf Madeira gibt es zwei Destil­lerien, von denen die eine, Engenho Novo, für Besucher nicht zugänglich ist, deren Produkte aber unter der Marke „William Hinton“ expor­tiert werden und inzwi­schen auch in Deutschland erhältlich sind. Die andere, Engenhos do Norte, liegt im Nordosten der Insel und ist sehr gut auf Besucher vorbe­reitet. In der Produk­ti­ons­halle ist ein Infosystem instal­liert, der Shop ist reich ausge­stattet. Die Destil­lerie bietet ihre Produkte nur auf Madeira an. Alle Arbeits­schritte sind sehr tradi­tionell, so werden die Zucker­rohr­pressen noch mit Dampf betrieben. 

Die madei­ri­schen Rumpro­du­zenten sind sehr stolz darauf, den einzigen „europäi­schen Rum“ zu produ­zieren, und das nach ähnlich strikten Regeln wie sie für den „Rhum Agricole“ gelten. Während jener aus franzö­si­schen Übersee-Gebieten stammt, gilt Madeira adminis­trativ als „Festland-Portugal“, somit machen die hiesigen Destil­lerien das Allein­stel­lungs­merkmal für sich geltend; immerhin liegt Madeira ja auch dem europäi­schen Festland am nächsten. Wie beim Rhum Agricole kann man sich sicher sein, dass der Rum weder gezuckert noch irgendwie sonst verändert werden darf und aus reinem Zucker­rohrsaft destil­liert wird. 

Inter­essant sind auch die verschie­denen verwen­deten Holzfässer für die Produktion vor allem bei William Hinton: Neben den klassi­schen weißen und jungen, milden Rumsorten spielen vor allem diverse länger gereifte Versionen eine Rolle. Wie beim Whisk(e)y gilt schließlich auch hier: 60–70 % der Aromen kommen aus dem Fass. Das gilt natürlich erst recht bei längerer Lagerung wie in Amarone‑, Sauternes‑, Port- oder Sherry-Fässern. Natürlich gibt es unter den sechs­jäh­rigen Limited Editions von Hinton auch eine aus dem Madei­rawein-Cask. Was nicht zuletzt zu einem inter­es­santen Kreislauf beiträgt …

Fortified – der einzig­artige Wein der Insel will verstanden sein

Der mit Branntwein verstärkte Wein aus Madeira ist in vielerlei Hinsicht eine Beson­derheit. Oft verglichen mit Port oder Sherry, hat er außer dem Zusatz von Hochpro­zen­tigem jedoch nicht viel mit jenen gemein. 

Die Erwärmung des Grund­weines ist geschichtlich dem Umstand zu verdanken, dass der von portu­gie­si­schen Entde­ckern und Händlern mitge­führte Wein auf langen Seereisen in warmen Gefilden immer wieder stark erwärmt wurde und dadurch an Geschmack gewann. Die Stabi­li­sierung und langfristige Konser­vierung durch Zusatz von Brandy kam erst mit der Zeit auf. Die Verwandlung durch die Seereise führte zum Begriff des „Torna­viagem“ – Wandel durch die Reise.

Heute wird die Erwärmung entweder technisch über mehrere Monate mit anschlie­ßender Stabi­li­sierung in großen Holzfässern durch­ge­führt (Estufagem-Methode) oder tradi­tionell durch die Lagerung der Fässer unter der Sonne. Die großen Fuder der Marke „Blandys“ aus brasi­lia­ni­schem Seiden­baumholz können in der ehema­ligen Produk­ti­ons­stätte in Funchal bewundert werden. 

Man unter­scheidet bei Madeira-Wein tradi­tionell zwischen Weinen verschie­dener Alters­stufen – diese können aus mehreren Rebsorten bestehen – und den rebsor­ten­reinen, nach Jahrgängen bezeich­neten Weinen: Colheitas bzw. Vintage genannt. 

Madeira wird aus fünf Weißwein-Reben und einer roten Rebsorte gewonnen. Sercial erzeugt trockene Weine, Verdelho halbtro­ckene und Boal halbsüße Weine, während Malvasia (oder auch Malmsey) für die Süßweine steht. Die einzige rote Sorte Tinta Negra bringt eher süße Weine hervor, ist aber in den Anbau­richt­linien Madeiras bislang nicht so festgelegt wie die anderen Sorten. Eine Rarität, weil sehr empfindlich, ist die Terrantez, die von trocken bis süß sehr flexibel ist. Die rebsor­ten­reinen Madeiras (zu 85 % eine Sorte) müssen die Rebsorte im Etikett führen, so ist auch der Charakter schnell zu erkennen. Als Colheita mit Jahrgangs­be­zeichnung hat man also einen besonders hochwer­tigen Wein eines bestimmten Jahrgangs.

Die Madeiras mit Alters­angabe sind ab fünf bis über 20 Jahre in fünfjäh­rigen Stufen definiert. Hier geht es nicht nach einem exakten Alter, sondern das Weinin­stitut bestimmt die Zulassung nach dem Geschmacksstil des Weines, der einer bestimmten Alters­stufe entsprechen, aber dieses Alter nicht aufweisen muss. Die Rebsorte muss hier nicht genannt sein, da es tradi­tionell Blends sein können; der Trend geht aber auch hier zu reinsor­tigen Madeiras mit Rebsor­ten­angabe. Hier wird die Unter­scheidung aber erleichtert durch die Angabe des Stils – von „Dry“ bis „Rich“. Diese Kennzeichnung auf dem Etikett ist die derzeit klarste Abgrenzung von den Colheita-Madeiras. 

Inzwi­schen bestimmen aber natürlich auch beim Madeira nicht nur die Rebsorten den Geschmack. Längst haben hier verschiedene Fasstypen Einzug gehalten. So findet man bei Henriques & Henriques im tradi­tio­nellen Wein-Ort Camara de Lobos auch Rumfässer von Hinton, die zur Madeira-Reifung der Blends verwendet werden. 

Madeira – ein Fest nicht nur für den Gaumen

Sollten Sie zu Beginn Ihrer Madeira-Reise nach regio­nalen Spezia­li­täten Ausschau halten und im reich­hal­tigen Angebot auch den „Espetada“ im Angebot finden, so können Sie getrost erst einmal etwas anderes nehmen – denn diesen Klassiker der Madeira-Küche, den Fleisch-Spieß vom Grill, finden Sie im Grunde auf jeder Speise­karte. Am besten schmeckt er, wenn Sie beim Grillen zusehen können. Serviert wird dann direkt vom Spieß auf den Teller, oder Sie bekommen einen ganzen Spieß auf einem Gestell an den Tisch. 

Fisch ist natürlich in aller Vielfalt zu haben, von Muscheln über Thunfisch, als Vorspeise nach Tapas-Art oder als Haupt­ge­richt, bis zum zweiten Klassiker Degen­fisch, ein weiteres Beispiel für das üppige maritime Speisen-Angebot der Insel, die überdies mit viel Obst und Gemüse aufwartet, alles herrlich frisch, meist aus der Nachbar­schaft. Bei den Einhei­mi­schen sind die „Milho Frito“, kleine Maiswürfel, als Beilagen sehr beliebt, ebenso wie Süßkar­toffeln. 

Neben den meist nicht sehr beein­dru­ckenden Weißweinen – Rotweine sind selten – ist vor allem nach dem Essen der „Poncha“ erwäh­nenswert, er wird meist aus Zitro­nensaft, Honig und Zucker­rohr­schnaps gemischt, ist häufig recht stark und je nach Mischung auch süß. Tradi­tionell mit dem „Pau de Poncha“ aus Orangenholz zusam­men­ge­quirlt, haben sich verschie­denste Varianten entwi­ckelt, die in spezi­ellen Bars auch als Spezia­lität angeboten werden. 

Als Dessert bzw. Süßigkeit sind wie auf dem Festland die „Pastéis de Nata“, kleine Blätter­teig­pas­teten mit Creme­füllung, ein Muss. Die tradi­tio­nellen Honig­kuchen, vergleichbar mit Früchte- oder Lebkuchen, sind hier nicht nur zur Weihnachtszeit beliebt.

Kulinarik als Lohn harter Arbeit – das muss gefeiert werden 

Die schwie­rigen Anbau-Bedin­gungen kann man überall an den Hängen der Insel erahnen oder bei Levada-Wande­rungen nachemp­finden. Beein­dru­ckend sind aber auch einige andere winzige Enklaven des Obst- und Weinanbaus, die bis vor kurzem nur durch recht primitive, abenteu­er­liche Seillift-Fahrten zugänglich waren. Inzwi­schen sind die strand­nahen Plantagen weit unterhalb der Klippen mit modernen Seilbahnen für Touristen zugänglich, die auch den Ansäs­sigen Leben und Arbeit erleichtern. So gelangen die Reben, Bananen und anderen Früchte zum Beispiel von der Fajo dos Padres an der Südküste zu Märkten und Madeira-Weinfirmen. Einhei­mische und Reisende kommen zum Baden, Sonnen oder Speisen im kleinen Restaurant, und auch ein paar Gäste­zimmer in kleinen, schönen Ferien­häusern gibt es. 

Dafür muss man aber nicht zwingend Seilbahn fahren. Bereits am Flughafen und wahrscheinlich schon bei der Reise­bu­chung wird man daran erinnert, dass Madeira durchaus ein Pauschal­rei­seziel ist. Im großen Weinhotel sind die mehrspra­chigen Infos erst auf Deutsch und zuletzt auf Portu­gie­sisch, und viele Hotels schmücken sich an den Eingängen mit großen Veran­stalter-Logos. Wer es exklu­siver haben möchte, muss sich nach kleinen Hotels oder nach den edlen mondänen Herbergen umsehen bzw. bei kleinen Reise­spe­zia­listen anfragen. Neben dem legen­dären „Reeds“ am Rande von Funchal gibt es weitere Tradi­ti­ons­häuser, von Quintas und Casas bis hin zu parkum­säumten Bauten im Koloni­alstil. 

Madeira weiß seine kulina­ri­schen Genüsse – allem voran natürlich den Wein – gebührend zu feiern. Das Madeira Weinfes­tival in den ersten Septem­ber­wochen ist nicht nur für Touristen gemacht. Hier feiern sich die hart arbei­tenden Weinbauern und lassen die ganze Insel mit ihren Besuchern teilhaben. Zahlreiche Verkos­tungen, Partys, Dinner und eine Wein-Probier­meile in Funchal tragen zu den Festi­vi­täten bei, die am Schluss in einem großen Umzug in Camara de Lobos münden, der die ganze portu­gie­sische Farben­pracht wider­spiegelt, und bei dem die Menta­lität der Insulaner die Gäste ansteckt mitzu­feiern.

Am letzten Tag gehört ein Barkeeper-Wettbewerb zum Höhepunkt des Weinfestes, bei dem ganz selbst­ver­ständlich auch die flanie­renden Festival-Gäste zum Schauen und Kosten einge­laden sind. 

Der „Concurso Mixologia“ bringt auch Madei­rawein und Rum wieder zusammen, neben einer Fülle weiterer Zutaten für Drinks und Cocktails, die schon für das Auge ein Hochgenuss sind. 

Im Osten und Westen der Insel sind bereits die nächsten Kreationen in Arbeit. Dort werden die Apfel­ernten lokaler Bauern zu Sidra, einem herrlich trockenen, frischen Apfelwein verar­beitet. Die Quinta Pedagogica in Praderez kümmert sich auf Initiative eines Padres seit vielen Jahren um die Verar­beitung und Vermarktung lokaler Produkte der Landwirt­schaft, so wird eine breite Palette – von Beeren­li­kören über Honig bis eben hin zum Sidra – geboten, für die die Quinta gern auch Export­kon­takte knüpfen will.

Madeira ist also selbst abseits von Wein, Rum und Espetadas ein Reiseziel für kulina­rische und landschaft­liche Überra­schungen – auch ohne Eisenbahn … !

Christian Rümmelein

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