55 Jahre Gourmandise – Wie Deutschland Essen und Trinken neu erfand
Es ist ein Buch, das jedem kulinarisch interessierten Leser zur Pflichtlektüre geraten sei: „Das deutsche Küchen- und Weinwunder“ erzählt auf knapp 400 Seiten eine packende Kulturgeschichte der Bundesrepublik – durch die Linse von Teller und Glas. Autor und Historiker Josef Matzerath sowie der renommierte Weinjournalist Daniel Deckers zeichnen nach, wie sich aus dem kulinarischen Trümmerfeld der Nachkriegszeit eine Gourmet-Nation formte.
Von der Leberwurst zur Langustine
Das Buch beginnt mit dem Jahr 1970 – ein symbolisches Datum. In einer Zeit, als deutsche Küche noch als deftig, fade und wenig fantasievoll galt, setzen erste Aufbrüche ein. Der kulinarische Wandel wird entlang gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und medialer Entwicklungen nachvollzogen. Dabei steht der Journalist Wolfram Siebeck als intellektuelle Leitfigur über weite Strecken der Erzählung – kein Zufall, denn Matzerath konnte auf dessen Nachlass an der TU Dresden zurückgreifen.
Es sind die Kronzeugen der Haute Cuisine wie Eckart Witzigmann, der ab 1971 im Münchner „Tantris“ wirkte, oder der visionäre Gastrokritiker Gert von Paczensky, die das neue Selbstbewusstsein einer Generation dokumentieren, die Genuss nicht länger delegieren wollte – sondern selbst Teil des guten Geschmacks wurde.
Von Michelin-Sternen und WG-Küchen
Matzerath gelingt es, aus einem scheinbar elitären Thema ein vielschichtiges Panorama des Wandels zu zeichnen. Was einst mit französischer Nouvelle Cuisine begann, wurde in Deutschland zu einem eigenen Stil weiterentwickelt – getragen von steigender Reiseerfahrung, wachsendem Wohlstand und einem veränderten Körperbewusstsein. Auch die Demokratisierung des guten Essens durch Medien – vom „Feinschmecker“ (ab 1969!) bis zur Kochshow – wird klug analysiert.
Dabei spart Matzerath nicht mit kritischen Untertönen. Der Übergang vom ernsthaften Kochen zur Eventgastronomie und zur teils banalen TV-Verwertungsmaschinerie wird nicht verklärt, sondern als Herausforderung für die Esskultur benannt.
Das zweite Wunder: Der Wein
Der zweite Teil stammt aus der Feder von Daniel Deckers, der als langjähriger FAZ-Autor und VDP-Kenner eine fundierte und bisweilen auch sehr dezidierte Perspektive auf das sogenannte „Deutsche Weinwunder“ bietet. Vom Imagewandel des Rieslings über die Qualitätsrevolution der 1990er-Jahre bis hin zur heutigen Profilierung des eigentlich konservativem VDP als „Terroir-Avantgarde“ bietet Deckers präzise Einordnungen – wenngleich mit einem klaren Fokus auf VDP-Verband und Eliteweingüter. Andere Entwicklungen – etwa Naturweine oder der Aufstieg junger Quereinsteiger – bleiben leider eher am Rand.
Fazit: Pflichtlektüre für Genießer mit historischem Blick
„Das deutsche Küchen- und Weinwunder“ ist keine leichte Kost – das Werk ist mit über 1.000 Fußnoten wissenschaftlich geprägt, aber zugleich stilistisch ansprechend und reich an überraschenden Fundstücken. Wer sich für die kulturelle Entwicklung von Genuss und Esskultur in Deutschland interessiert, findet hier eine Fundgrube.
Nebenbei sei bemerkt, dass viele Autoren, die für das Gourmet- & Reisemagazin SAVOIR VIVRE tätig sind oder waren, über die genannten Köche und Winzer in den 31 Jahren seit Gründung des Magazins berichtet haben. In vielen Beiträge finden sich auch »Geheim-Rezepte«. Wir veröffentlichen das historische Material unter verschiedenen Rubriken wie beispielsweise »Topfguckerei«; »Weintagebuch«.
Empfehlung: Für Gourmets, Gastronomen, Journalisten und alle, die verstehen wollen, wie aus dem Land der Sülze ein Land der Sterneköche wurde. Ein ebenso opulentes wie aufschlussreiches Lesemenü.
Bibliografische Angaben:
Josef Matzerath, Daniel Deckers: Das Deutsche Küchen- und Weinwunder. Gourmandise in Deutschland, 1970–2025
Transcript Verlag, 2024 | 39,00 € | ISBN: 978–3‑8376–6890‑1