Buchbe­spre­chung: „Das deutsche Küchen- und Weinwunder“

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 2 Minuten

55 Jahre Gourmandise – Wie Deutschland Essen und Trinken neu erfand

Es ist ein Buch, das jedem kulina­risch inter­es­sierten Leser zur Pflicht­lektüre geraten sei: „Das deutsche Küchen- und Weinwunder“ erzählt auf knapp 400 Seiten eine packende Kultur­ge­schichte der Bundes­re­publik – durch die Linse von Teller und Glas. Autor und Histo­riker Josef Matzerath sowie der renom­mierte Weinjour­nalist Daniel Deckers zeichnen nach, wie sich aus dem kulina­ri­schen Trümmerfeld der Nachkriegszeit eine Gourmet-Nation formte.

Von der Leber­wurst zur Langustine

Das Buch beginnt mit dem Jahr 1970 – ein symbo­li­sches Datum. In einer Zeit, als deutsche Küche noch als deftig, fade und wenig fanta­sievoll galt, setzen erste Aufbrüche ein. Der kulina­rische Wandel wird entlang gesell­schaft­licher, wirtschaft­licher und medialer Entwick­lungen nachvoll­zogen. Dabei steht der Journalist Wolfram Siebeck als intel­lek­tuelle Leitfigur über weite Strecken der Erzählung – kein Zufall, denn Matzerath konnte auf dessen Nachlass an der TU Dresden zurück­greifen.

Es sind die Kronzeugen der Haute Cuisine wie Eckart Witzigmann, der ab 1971 im Münchner „Tantris“ wirkte, oder der visionäre Gastro­kri­tiker Gert von Paczensky, die das neue Selbst­be­wusstsein einer Generation dokumen­tieren, die Genuss nicht länger delegieren wollte – sondern selbst Teil des guten Geschmacks wurde.

Von Michelin-Sternen und WG-Küchen

Matzerath gelingt es, aus einem scheinbar elitären Thema ein vielschich­tiges Panorama des Wandels zu zeichnen. Was einst mit franzö­si­scher Nouvelle Cuisine begann, wurde in Deutschland zu einem eigenen Stil weiter­ent­wi­ckelt – getragen von steigender Reise­er­fahrung, wachsendem Wohlstand und einem verän­derten Körper­be­wusstsein. Auch die Demokra­ti­sierung des guten Essens durch Medien – vom „Feinschmecker“ (ab 1969!) bis zur Kochshow – wird klug analy­siert.

Dabei spart Matzerath nicht mit kriti­schen Unter­tönen. Der Übergang vom ernst­haften Kochen zur Event­gastro­nomie und zur teils banalen TV-Verwer­tungs­ma­schi­nerie wird nicht verklärt, sondern als Heraus­for­derung für die Esskultur benannt.

Das zweite Wunder: Der Wein

Der zweite Teil stammt aus der Feder von Daniel Deckers, der als langjäh­riger FAZ-Autor und VDP-Kenner eine fundierte und bisweilen auch sehr dezidierte Perspektive auf das sogenannte „Deutsche Weinwunder“ bietet. Vom Image­wandel des Rieslings über die Quali­täts­re­vo­lution der 1990er-Jahre bis hin zur heutigen Profi­lierung des eigentlich konser­va­tivem VDP als „Terroir-Avant­garde“ bietet Deckers präzise Einord­nungen – wenngleich mit einem klaren Fokus auf VDP-Verband und Elite­wein­güter. Andere Entwick­lungen – etwa Natur­weine oder der Aufstieg junger Querein­steiger – bleiben leider eher am Rand.

Fazit: Pflicht­lektüre für Genießer mit histo­ri­schem Blick

„Das deutsche Küchen- und Weinwunder“ ist keine leichte Kost – das Werk ist mit über 1.000 Fußnoten wissen­schaftlich geprägt, aber zugleich stilis­tisch anspre­chend und reich an überra­schenden Fundstücken. Wer sich für die kultu­relle Entwicklung von Genuss und Esskultur in Deutschland inter­es­siert, findet hier eine Fundgrube.

Nebenbei sei bemerkt, dass viele Autoren, die für das Gourmet- & Reise­ma­gazin SAVOIR VIVRE tätig sind oder waren, über die genannten Köche und Winzer in den 31 Jahren seit Gründung des Magazins berichtet haben. In vielen Beiträge finden sich auch »Geheim-Rezepte«. Wir veröf­fent­lichen das histo­rische Material unter verschie­denen Rubriken wie beispiels­weise »Topfgu­ckerei«; »Weinta­gebuch«.

Empfehlung: Für Gourmets, Gastro­nomen, Journa­listen und alle, die verstehen wollen, wie aus dem Land der Sülze ein Land der Sterne­köche wurde. Ein ebenso opulentes wie aufschluss­reiches Lesemenü.

Biblio­gra­fische Angaben:
Josef Matzerath, Daniel Deckers: Das Deutsche Küchen- und Weinwunder. Gourmandise in Deutschland, 1970–2025
Transcript Verlag, 2024 | 39,00 € | ISBN: 978–3‑8376–6890‑1

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