Die Morchel – hohlköpfig, doch voller Esprit

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 4 Minuten

Es klingt wie ein Märchen aus ferner Zeit: 1894 schreibt der Gärtner Ernst Wendisch in einem seiner Bücher über die Morchel und fragt mit Pathos: „Werden die Morcheln ihrem hohen Werte entspre­chend auch genügend gewürdigt?“ Die Antwort, damals wie heute, fällt ernüch­ternd aus. Schon Wendisch klagte über mangelnde Wertschätzung – und könnte doch staunen, dass sich ausge­rechnet dieser Pilz im 21. Jahrhundert zur kostbaren Delika­tesse verwandelt hat. Ein „Volks­nah­rungs­mittel“, wie er hoffte, ist die Morchel nie geworden. Im Feinkost­handel werden frische Exemplare kaum unter hundert Euro pro Kilo gehandelt, getrocknete gar gramm­weise.

Die Diva unter den Pilzen

Kaum ein Gewächs des Waldes genießt ein solches Prestige. Ihre Hüte, die wie Bienen­waben anmuten, gelten in der gehobenen Gastro­nomie als heimliche Stars. Ein Ober, der beim Servieren leise hinzufügt: „Heute haben wir frische Morcheln“, weiß, dass er damit die Aufmerk­samkeit seiner Gäste fesselt. Die Morchel ist eine Diva: exzen­trisch, rar und teuer – und doch von einem Geschmack, der himmlisch wirkt.

Ihre Saison ist kurz: von April bis Juni, mit Glück schon gegen Ende März, wenn der Oster­vollmond naht. Getrocknet ist sie das ganze Jahr über zu haben, dann konzen­triert im Aroma, fast zu intensiv für sich allein, aber ideal für Saucen. Die frische Morchel dagegen ist feiner, zarter im Biss, samtig und weich – ein Pilz, der sich nicht in der Masse, sondern nur in der Einzel­rolle behauptet.

Kulina­rische Minia­turen

Wie aber nähert man sich diesem Aroma­wunder? Manche Köche schwören auf das Schlichte: Morcheln in Butter geschwenkt, gesalzen, gepfeffert, vielleicht mit einem Tropfen Kalbsfond beträufelt – mehr braucht es nicht. Andere wählen den barocken Weg: Schalotten in Butter glasig, die Pilze dazu, kräftig anbraten, mit altem Sherry ablöschen, Peter­silie darüber – und Weißbrot als Begleiter.

Im Frühling fügt man gerne Spargel hinzu. Dann entsteht ein Gericht, das nicht mehr nur Speise ist, sondern ein Bild: Spargel­stücke, von Morcheln umspielt, alles lauwarm serviert, mit einem Hauch Trüffelöl parfü­miert. Ein Salat, der keiner ist, eher ein leiser Auftakt zur warmen Jahreszeit.

Elfie Casty, eine Schweizer Köchin von stiller Eleganz, servierte Gästen einst ein Morchel­ragout, das wie ein Gedicht klang: Morcheln in Butter, dazu Knoblauch, Frühlings­zwiebel, Thymian. Madeira und Weißwein, sirup­artig reduziert, Rahm und ein Hauch Curry. Wer davon kostete, vergaß die Zeit.

Frank­reich kennt die „Tourte aux morilles“, eine goldene Blätter­teig­kuppel, unter der sich das Aroma sammelt. Man schneidet sie an – und der Duft entweicht wie ein Versprechen. Paul Bocuse wiederum hüllte die Morchel­suppe in einen Blätter­teig­himmel. Wer den Teig durch­brach, stieß auf ein Aroma, erdig und tief, das so unver­mittelt in die Sinne drang, dass es schwer fiel, noch ans Sattwerden zu denken.

Von echten und falschen Verwandten

Doch Vorsicht: Nicht jede Morchel ist eine Morchel. Den unver­gleichlich nussigen, leicht karamel­ligen Geschmack bieten allein die Speise­morchel und ihre schlanke Schwester, die Spitz­morchel. Die Runzel­verpel, auch „böhmische Morchel“ genannt, wirkt daneben grob. Ganz und gar belanglos ist der sogenannte „Black Fungus“, der in asiati­schen Restau­rants als „China-Morchel“ auftritt – glibbrig, schwammig, ohne jede Finesse.

Wer selbst auf Suche geht, muss unter­scheiden können. Die giftige Frühlings­lorchel, deren Hut eher an Hirnlappen erinnert als an Waben, kann fatale Folgen haben. Selbst die echten Morcheln sollten nie roh gegessen werden; erst das Erhitzen nimmt ihnen die giftigen Stoffe, die den Magen reizen.

Weltreise eines Pilzes

In Deutschland und Öster­reich stehen Morcheln unter Schutz – zu selten sind sie geworden. Viele der frischen Exemplare, die hier auf den Märkten liegen, stammen aus der Türkei oder aus Nordamerika. Getrocknete kommen aus Pakistan, Indien, Marokko, Mexiko oder Kanada. Unter­schiede gibt es zuhauf: Himalaya-Morcheln, über Feuer getrocknet, schmecken oft rauchig und herb. Nordame­ri­ka­nische dagegen, sanft an der Luft getrocknet, bewahren ein reines, noch inten­si­veres Aroma.

Das Aroma­wunder

Ob mit Spargel, Kalbfleisch, Hummer oder Geflügel – Morcheln sind von einer Vielsei­tigkeit, die fast jeden Partner adelt. Gefüllt mit Gänse­leber und bei 180 Grad im Ofen gebacken, sind sie ein kulina­ri­sches Ereignis, das fast schon an Dekadenz grenzt.

Was dazu trinken? Champagner passt beinahe immer. Ein kräftiger Chardonnay oder Traminer harmo­niert ebenso. Und wer Morcheln in Sherry-Sabayon zubereitet, sollte nicht zögern, auch Sherry ins Glas zu schenken.

So ist die Morchel – trotz ihres hohlen Kopfes – ein kulina­ri­sches Ereignis von seltener Tiefe. Ein Pilz, der aus der Natur wie ein kostbarer Einfall wirkt: geheim­nisvoll, gefährdet, begehrt. Ein Wunderwerk, das zeigt, dass selbst im Boden das Erhabene wachsen kann.

 

Der Spargel-Morchel-Salat

Ein leichtes Zwischen­spiel: weißer Spargel, in Stücke geschnitten, sanft gegart, dazu Morcheln, die kurz in Olivenöl mit Schalotten mitschmoren. Ein Spritzer Weißwein­essig bringt Spannung, ein Hauch Peter­silie Frische. Lauwarm serviert, umweht von einem Tropfen Trüffelöl, ist dieses Gericht nicht Salat, sondern eine duftende Szene aus dem Mai.

Das Morchel­ragout

Elfie Casty, eine feinsinnige Köchin aus der Schweiz, pflegte es so: Morcheln in Butter, mit Frühlings­zwiebel, Knoblauch und einem Zweig Thymian – dann ein Schuss Madeira, ein Schuss Weißwein, etwas Fond. Alles kocht sich sirup­artig zusammen, ehe Rahm hinzu­kommt. Die Sauce schmiegt sich an die Pilze, cremig und würzig, mit einer Spur Curry und Zitrone aufge­hellt. Ein Gericht, das nicht satt macht, sondern verführt.

Die Morchel­torte

Die Franzosen nennen sie „Tourte aux morilles“ – ein Blätterteig, der sich wölbt und unter der goldenen Hülle das Pilzaroma gefangen hält. Man schneidet ihn an, und der Duft entweicht wie ein Versprechen. In ihrer üppigen Variante sind Morchel­spitzen gefüllt mit einem Mus aus Langus­tinen, gebettet in Sherry-Sabayon – eine Küche, die fast schon nach Oper klingt.

Die Suppe unter dem Blätter­teig­himmel

Paul Bocuse hat sie berühmt gemacht: eine Suppe, kaum mehr als ein kräftiger Fond, darin Morcheln, überzogen von einer Haube aus Blätterteig. Der erste Löffel gehört dem Duft – warm, erdig, tief. Es ist eine jener Speisen, die nicht nur den Hunger stillen, sondern eine ganze Erinnerung wecken.

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