Um neun Uhr abends sollen wir an Bord gehen, um zehn soll der Zug starten. Nein, das Restaurant sei dann schon geschlossen, erklärt der bärtige Service Manager Dan, doch es gebe eine Begrüßungsparty mit „Champagner und Häppchen“. Es wird dann doch um einiges später. Und kaum sind wir eingestiegen, rollt der Zug los, von dem im Dunkel der Nacht kaum etwas zu sehen ist. Der erste Eindruck von unserer Kabine ist das Erschrecken, wie klein sie ist: Die beiden „Stockbetten“ sind bereits gemacht, davor ein schmaler Gang mit dem in die Wand eingelassenen Waschbecken und der Tür zur Toilette. Zwei Erwachsene haben Mühe, aneinander vorbeizukommen. Dabei haben wir noch Glück gehabt. Von den sechs Doppelkabinen des Wagens (A bis F) ist F einen Fuß größer als die anderen, wie mir Dan anderntags erklärt.
Die Gäste, die nach und nach zur Begrüßungsparty eintrudeln, sind höchst aufgekratzt. Es ist eine Klientel wie auf einem Kreuzfahrtschiff der teureren Art: Eher Sechzig- als Fünfzig-Plus, vornehmlich Ehepaare, die Mehrzahl der Herren in kurzen Hosen und T‑Shirt, Freizeit-Amerika, wie es sommers lebt und leibt. Immer wieder Ausrufe der Begeisterung: „What a gorgeous train!“ (Obwohl doch eigentlich noch niemand so richtig was von ihm gesehen hat.) „What a nice party!“ – „What a beautiful day!“
Die große Mehrheit der Passagiere bilden naturgemäß Kanadier und US-Amerikaner, deren Begeisterungsfähigkeit ja immer wieder bewundernswert ist. Sie verbreiten damit eine (scheinbare oder wirkliche?) gute Laune, die ja so manchen europäischen Kreuzfahrer schon inspiriert hat, vorzugsweise auf einem US-Schiff „mit den immer fröhlichen Amis“ zu fahren.
Schlafen wie Marilyn Monroe
„Der legendäre Canadian“, wie er ab jetzt in allen Ansagen genannt wird, ist schon ein absolutes Unikat. Nicht nur, weil er eine der längsten Strecken der Welt fährt (von Toronto bis Vancouver 4439 Kilometer), er ist auch ganz anders eingerichtet als andere berühmte Züge, wie zum Beispiel Orient-Express, Rovos Rail oder Blue Train. Er hat als einziger nicht nur eine einzige Luxusklasse, sondern zumindest drei, und niemand muss die ganze Strecke (fünf Tage und vier Nächte) fahren, sondern jeder Passagier kann an einem der Bahnhöfe ein- oder aussteigen, an denen der Zug anhält und die Türen öffnet (Hornpayne, Winnipeg, Edmonton, Jasper).
An der Spitze unseres Zuges, an dem hinter den zwei potenten Diesellokomotiven ein mehrfach renovierter Wagenpark aus den fünfziger Jahren hängt, befindet sich die Economic Class: Beförderung wie in einem deutschen Regional Express auf 136 Sitzplätzen. Das Gegenteil am Ende des Zuges: Die sogenannte Prestige Class besteht nur aus drei Wagen mit dreizehn höchst luxuriösen Kabinen (Betten auf einer Ebene, Holzfurniere, Leder, Flachbildschirm, Minibar, Roomservice, all-inclusive); sie sind alle belegt.
Und wir sind irgendwo dazwischen, quasi die Business Class des Canadian mit knapp 300 Betten, die hier „Sleeper Class“ heißt. Und die wiederum offeriert etliche Varianten. Da sind einmal die doppelstöckigen Betten hinter einem Vorhang, wie man sie aus „Some like it Hot“ kennt, wo Marilyn Monroe darin mit ihren Bandkolleginnen immer noch mal einen fröhlichen Drink nahm. Dann gibt es Einzelabteile („Roomettes“), in denen erst am Abend das Bett heruntergelassen wird.
Und schließlich sind da die „Abteile für zwei“ wie das unsere: Am Tag werden zwei angenehme Lehnstühle aufgebaut, in einem Schlitz in der Wand hängen vier Bügel (das ist der Kleiderschrank), es gibt ein geradezu an Art déco erinnerndes Waschbecken und eine winzige Toilette. Die Dusche des Waggons, mit einem Vorraum zum Umziehen befindet sich direkt vor der Tür unseres Abteils. Die Prestigeklasse würde weit mehr als doppelt so viel kosten.
Am nächsten Morgen fährt der Zug mit seinen fast 500 Plätzen, doch wohl nur halb so vielen Passagieren, bei leichtem Regen durch einen grünen, undurchdringlichen Wald, stundenlang zwischen den unzähligen Seen Ontarios durch, mitunter nicht schneller als eine Radwanderergruppe. Langschläfer haben es schwer: Frühstück gibt es nur bis 8:30 Uhr, dafür ist es aber von schönster amerikanischer Deftigkeit: Diverse Omeletts und Eier-Speisen mit reichlich Würsten und Schinken, mit denen auch die sirupsüßen Pancakes flankiert werden.
Händewaschen nach Vorschrift
Mittags und abends stehen stets drei Hauptgerichte zur Wahl (Fleisch, Fisch und vegetarisch), dazu Salat oder Suppe und schließlich übergroße Desserts mit viel Sahne und/oder Schokolade, für die das Wort Kalorienbombe eine grobe Verharmlosung darstellt. Der Koch wird allgemein superlativisch gelobt („Amazing!“ – „Great Job!“ – „Super Food!“), tatsächlich ist es beeindruckend, was er aus seiner kleinen Küche hervorzaubert. Die jungen Attendants, wie sie hier heißen, servieren fröhlich und unbekümmert; gegen Zuzahlung kann man sich auch ein Glas Wein bestellen, drei weiße und drei Rote stehen zur Auswahl.
Doch am schönsten sind die Stunden oben im Dome Car unter dem fast ganz verglasten Himmel. Wenn die Sonne scheint wie in Manitoba am zweiten Tag und die Air-Condition ihre hier mitunter abschreckend arktisierende Wirkung mal vergisst, sieht man den Zugteil vor sich glitzernd durch Kurven in den Sonnenuntergang fahren – ein schön poetisches Bild.
„Und man kriegt doch ein Gefühl, wie groß Kanada wirklich ist“, sagt der drahtige ältere Mann aus Montreal, der diese Strecke in seinem Sportwagen („aus Deutschland“) schon mehrfach gefahren ist und sie nun zum ersten Mal im Zug erlebt: „Was man da plötzlich alles sieht, ist unglaublich. Die totale Entschleunigung!“
In Winnipeg haben wir erstmals einen Stopp für über drei Stunden. Als wir dann zurückkommen, müssen wir 40 Minuten darauf warten, wieder in den Zug steigen zu dürfen. So auch andernorts, etwa in Jasper: Wenn eine Stunde Aufenthalt angesagt ist, kommt keiner vor deren Ablauf zurück in sein Abteil. Es ist nicht die einzige Schrulligkeit: Auf den Toiletten hängt ein Plakat, das in Wort und Bild darüber belehrt, wie man sich die Hände wäscht („Effective Handwashing“).
Kurz hinter Hinton fangen die Rockies an. Erst stehen sie noch recht unscharf am Horizont, dann – im wunderbaren Naturpark von Jasper – werden sie schärfer, grüner, mit ein paar weißen Schneeflecken unter den Gipfeln. Der Zug, der in Edmonton noch einmal verlängert wurde und nun mit seinen 26 Waggons über 700 Meter lang ist, windet sich in weiten Kurven um die Berge. Die Fotografen drängeln sich oben im Dome-Wagen.
Vor Vancouver steht der Zug 40 Minuten, als er dann schließlich in den Bahnhof einfährt, ist es Mittag, etwa drei Stunden später als geplant. Aber das verargt dem „legendären Canadian“ eigentlich niemand. „Schade, dass es nicht noch ein bisschen später geworden ist“, scherzt, in ironischer Übertreibung, das launige Quartett aus Kalifornien, „ab drei Uhr nachmittags dürften wir in unser Hotelzimmer!“ Von Amerika lernen heißt, auch negativen Überraschungen positive Aussichten abzugewinnen …
Horst-Dieter Ebert