40 Jahre Weinskandal – Frost­schutz­mittel im Glas

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 3 Minuten

Mit Glykol und Zucker gegen die Krise: Der Weinskandal von 1985 erschüt­terte Öster­reich, Deutschland und die inter­na­tionale Weinwelt – und verän­derte das Verständnis von Qualität und Kontrolle nachhaltig. Ein Skandal, der den Wein besser machte

Im Sommer 1985 platzte eine Bombe, die noch Jahrzehnte nachhallte: Öster­rei­chische und deutsche Weinerzeuger hatten Millionen Liter Wein mit Diethy­len­glykol, besser bekannt als Frost­schutz­mittel, und mit Flüssig­zucker manipu­liert. Ziel war es, billigen Tafelwein in begehrte, hochpreisige Prädi­kats­weine zu „veredeln“ und so die damals herrschende Absatz­krise zu umgehen. Es war der Beginn des größten Weinskandals der Nachkriegszeit – und eine Zeiten­wende für den europäi­schen Weinbau.

Zeitzeuge erinnert sich

Ein Verkäufer, der damals im Direkt­ver­trieb von Wein tätig war, beschreibt die drama­tische Situation so: „Ich saß gerade bei einem Kunden zur Weinprobe, als im Fernsehen die Nachricht lief, dass genau vor dem Wein gewarnt wurde, den ich in diesem Moment einschenkte.“

Der Weg in die Krise

Schon Anfang der 1970er-Jahre begann der Pro-Kopf-Weinkonsum in Öster­reich und Deutschland stark zu sinken: Lag er Anfang der 1960er-Jahre noch bei über 45 Litern pro Person und Jahr, ging er rapide zurück. Weinbau­po­li­tiker und ‑verbände setzten auf Werbe­kam­pagnen und Produk­ti­ons­stei­gerung, doch der Markt nahm die immer größeren Mengen einfacher Alltags­weine nicht mehr auf. Die Folge: Überpro­duktion, Preis­druck, Verzweiflung.

Besonders in Öster­reich wollten Winzer den Preis pro Liter steigern und sahen eine Chance im Export­ge­schäft mit Deutschland. Dort war die Nachfrage nach restsüßen, hochwer­tigen Prädi­kats­weinen groß – und kaum jemand prüfte die Echtheit der Qualität. Das öffnete Tür und Tor für massive Fälschungen.

Frost­schutz im Wein – und keiner merkte es

Um den gewünschten „Extraktwert“ vorzu­täu­schen und billige Weine süßer, vollmun­diger und hochwer­tiger erscheinen zu lassen, griffen manche Winzer ab Ende der 1970er-Jahre zu Diethy­len­glykol, einer Chemi­kalie, die als Frost­schutz­mittel bekannt ist. Sie schmeckte süß, erhöhte die Visko­sität und ließ Weine wie edelsüße Auslesen oder Beeren­aus­lesen wirken – obwohl sie aus einfachem Tafelwein bestanden.

Diese Praxis blieb jahrelang unent­deckt. Erst ein anonymer Hinweis­geber brachte im Dezember 1984 eine manipu­lierte Weinprobe mit dem Verdacht auf Glykol zur Landwirt­schaftlich-Chemi­schen Bundes­an­stalt in Wien. Der Nachweis gelang Anfang 1985. Am 23. April 1985 infor­mierte der öster­rei­chische Landwirt­schafts­mi­nister die Öffent­lichkeit – und löste damit einen medialen und politi­schen Sturm aus.

Der Skandal schwappt nach Deutschland

Weil große Mengen dieser gepanschten Weine nach Deutschland expor­tiert worden waren, erreichte der Skandal innerhalb weniger Wochen auch dort eine neue Dimension. Über 147.000 Hekto­liter öster­rei­chi­scher Wein waren 1985 bereits impor­tiert. Erste Hinweise auf Fälschungen lagen den Behörden in Rheinland-Pfalz seit April vor, doch es dauerte bis Juli, bis umfas­sende Unter­su­chungen und Rückrufe anliefen.

Die Liste der betrof­fenen Impor­teure war prominent: Namen wie Niedert­häler Hof, Peter Lang oder Walter Seidel tauchten immer wieder in den Medien auf. Gleich­zeitig wurden auch deutsche Weingüter selbst ins Visier genommen: Unter­su­chungen zeigten, dass sie ihre eigenen Weine mit glykol­be­las­teten Importen verschnitten oder mit Flüssig­zucker zu überhöhten Quali­täts­stufen gepanscht hatten. Zwischen 1974 und 1978 soll in deutschen Anbau­ge­bieten deutlich mehr Prädi­katswein verkauft worden sein, als die Ernte­mengen hergaben.

Medien­hys­terie und politische Folgen

Die Bericht­erstattung erreichte ihren Höhepunkt, als die „Bild“-Zeitung am 12. Juli 1985 titelte: „Frost­schutzwein bei Omas Geburtstag – 11 vergiftet“. Die Meldung stellte sich als Falsch­meldung heraus, doch der Schaden war angerichtet: Verbraucher misstrauten dem gesamten Weinmarkt. Der Export öster­rei­chi­scher Weine nach Deutschland brach innerhalb eines Jahres um über 90 Prozent ein. Auch viele unschuldige deutsche Famili­en­be­triebe gerieten in Verruf und mussten massive Umsatz­ein­bußen verkraften.

Politisch hatte der Skandal erheb­liche Konse­quenzen: Beamte in Öster­reich und Deutschland verloren ihre Posten, Minister mussten sich heftiger Kritik stellen. Der Skandal machte klar, dass bestehende Kontrollen völlig unzurei­chend waren.

Jahrzehn­te­lange juris­tische Aufar­beitung

Die juris­tische Aufar­beitung dauerte über ein Jahrzehnt: In Deutschland wurden über 2.600 Straf­ver­fahren eröffnet, allein am Mainzer Landge­richt richtete man eine eigene Weinstraf­kammer ein. Berühmt-berüchtigt wurde der Prozess gegen die Brüder Schmitt von der Mosel, die mit mehr als 600 Tonnen Flüssig­zucker etwa zehn Millionen Liter Wein gefälscht hatten. Sie erhielten Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Der medien­wirksame Prozess gegen die Kellerei Pieroth endete 1994 mit einer Verfah­rens­ein­stellung gegen eine Millio­nen­zahlung, da ein vorsätz­liches Handeln nicht ausrei­chend nachge­wiesen werden konnte.

Ein Skandal, der den Wein besser machte

So verheerend der Skandal auch war – er war ein Weckruf. In Öster­reich führte er zur umfas­senden Reform des Weinge­setzes, das seit 1986 strengste Quali­täts­kon­trollen, klare Herkunfts­be­zeich­nungen und ein neues Prädi­kats­wein­system vorsieht. Auch Deutschland schärfte Gesetze und Kontrollen erheblich. Der Skandal gilt deshalb als „Mutter aller Lebens­mit­tel­skandale“ (Peter Schelling, „Welt“, 2010), die erstmals eine breite Debatte über Lebens­mit­tel­si­cherheit, Echtheit und Verbrau­cher­schutz auslöste.

Viele ältere Winzer zogen sich zurück und machten Platz für ihre Kinder, die mit Leiden­schaft und frischem Mut das „Weinwunder Öster­reich“ entfachten. Sie kelterten Weine, die das Land mit neuem Stolz erfüllten und weltweit Bewun­derung fanden. Auch deutsche Winzer wagten den Neuanfang, setzten kompro­misslos auf Qualität und brachten Weine hervor, die in der inter­na­tio­nalen Spitzen­klasse mitspielten und das Vertrauen der Genießer zurück­er­oberten.

40 Jahre später hat der Weinskandal damit wesentlich zu einem besseren Verständnis von Wein als hochwer­tigem Kulturgut beigetragen. Die strengen Kontrollen, die heute selbst­ver­ständlich sind, und die hohe Wertschätzung für klare Herkunft und authen­tische Qualität sind direkte Konse­quenzen aus den bitteren Erfah­rungen von 1985.

 

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