Es klingt wie ein Märchen aus ferner Zeit: 1894 schreibt der Gärtner Ernst Wendisch in einem seiner Bücher über die Morchel und fragt mit Pathos: „Werden die Morcheln ihrem hohen Werte entsprechend auch genügend gewürdigt?“ Die Antwort, damals wie heute, fällt ernüchternd aus. Schon Wendisch klagte über mangelnde Wertschätzung – und könnte doch staunen, dass sich ausgerechnet dieser Pilz im 21. Jahrhundert zur kostbaren Delikatesse verwandelt hat. Ein „Volksnahrungsmittel“, wie er hoffte, ist die Morchel nie geworden. Im Feinkosthandel werden frische Exemplare kaum unter hundert Euro pro Kilo gehandelt, getrocknete gar grammweise.
Die Diva unter den Pilzen
Kaum ein Gewächs des Waldes genießt ein solches Prestige. Ihre Hüte, die wie Bienenwaben anmuten, gelten in der gehobenen Gastronomie als heimliche Stars. Ein Ober, der beim Servieren leise hinzufügt: „Heute haben wir frische Morcheln“, weiß, dass er damit die Aufmerksamkeit seiner Gäste fesselt. Die Morchel ist eine Diva: exzentrisch, rar und teuer – und doch von einem Geschmack, der himmlisch wirkt.
Ihre Saison ist kurz: von April bis Juni, mit Glück schon gegen Ende März, wenn der Ostervollmond naht. Getrocknet ist sie das ganze Jahr über zu haben, dann konzentriert im Aroma, fast zu intensiv für sich allein, aber ideal für Saucen. Die frische Morchel dagegen ist feiner, zarter im Biss, samtig und weich – ein Pilz, der sich nicht in der Masse, sondern nur in der Einzelrolle behauptet.
Kulinarische Miniaturen
Wie aber nähert man sich diesem Aromawunder? Manche Köche schwören auf das Schlichte: Morcheln in Butter geschwenkt, gesalzen, gepfeffert, vielleicht mit einem Tropfen Kalbsfond beträufelt – mehr braucht es nicht. Andere wählen den barocken Weg: Schalotten in Butter glasig, die Pilze dazu, kräftig anbraten, mit altem Sherry ablöschen, Petersilie darüber – und Weißbrot als Begleiter.
Im Frühling fügt man gerne Spargel hinzu. Dann entsteht ein Gericht, das nicht mehr nur Speise ist, sondern ein Bild: Spargelstücke, von Morcheln umspielt, alles lauwarm serviert, mit einem Hauch Trüffelöl parfümiert. Ein Salat, der keiner ist, eher ein leiser Auftakt zur warmen Jahreszeit.
Elfie Casty, eine Schweizer Köchin von stiller Eleganz, servierte Gästen einst ein Morchelragout, das wie ein Gedicht klang: Morcheln in Butter, dazu Knoblauch, Frühlingszwiebel, Thymian. Madeira und Weißwein, sirupartig reduziert, Rahm und ein Hauch Curry. Wer davon kostete, vergaß die Zeit.
Frankreich kennt die „Tourte aux morilles“, eine goldene Blätterteigkuppel, unter der sich das Aroma sammelt. Man schneidet sie an – und der Duft entweicht wie ein Versprechen. Paul Bocuse wiederum hüllte die Morchelsuppe in einen Blätterteighimmel. Wer den Teig durchbrach, stieß auf ein Aroma, erdig und tief, das so unvermittelt in die Sinne drang, dass es schwer fiel, noch ans Sattwerden zu denken.
Von echten und falschen Verwandten
Doch Vorsicht: Nicht jede Morchel ist eine Morchel. Den unvergleichlich nussigen, leicht karamelligen Geschmack bieten allein die Speisemorchel und ihre schlanke Schwester, die Spitzmorchel. Die Runzelverpel, auch „böhmische Morchel“ genannt, wirkt daneben grob. Ganz und gar belanglos ist der sogenannte „Black Fungus“, der in asiatischen Restaurants als „China-Morchel“ auftritt – glibbrig, schwammig, ohne jede Finesse.
Wer selbst auf Suche geht, muss unterscheiden können. Die giftige Frühlingslorchel, deren Hut eher an Hirnlappen erinnert als an Waben, kann fatale Folgen haben. Selbst die echten Morcheln sollten nie roh gegessen werden; erst das Erhitzen nimmt ihnen die giftigen Stoffe, die den Magen reizen.
Weltreise eines Pilzes
In Deutschland und Österreich stehen Morcheln unter Schutz – zu selten sind sie geworden. Viele der frischen Exemplare, die hier auf den Märkten liegen, stammen aus der Türkei oder aus Nordamerika. Getrocknete kommen aus Pakistan, Indien, Marokko, Mexiko oder Kanada. Unterschiede gibt es zuhauf: Himalaya-Morcheln, über Feuer getrocknet, schmecken oft rauchig und herb. Nordamerikanische dagegen, sanft an der Luft getrocknet, bewahren ein reines, noch intensiveres Aroma.
Das Aromawunder
Ob mit Spargel, Kalbfleisch, Hummer oder Geflügel – Morcheln sind von einer Vielseitigkeit, die fast jeden Partner adelt. Gefüllt mit Gänseleber und bei 180 Grad im Ofen gebacken, sind sie ein kulinarisches Ereignis, das fast schon an Dekadenz grenzt.
Was dazu trinken? Champagner passt beinahe immer. Ein kräftiger Chardonnay oder Traminer harmoniert ebenso. Und wer Morcheln in Sherry-Sabayon zubereitet, sollte nicht zögern, auch Sherry ins Glas zu schenken.
So ist die Morchel – trotz ihres hohlen Kopfes – ein kulinarisches Ereignis von seltener Tiefe. Ein Pilz, der aus der Natur wie ein kostbarer Einfall wirkt: geheimnisvoll, gefährdet, begehrt. Ein Wunderwerk, das zeigt, dass selbst im Boden das Erhabene wachsen kann.
Der Spargel-Morchel-Salat
Ein leichtes Zwischenspiel: weißer Spargel, in Stücke geschnitten, sanft gegart, dazu Morcheln, die kurz in Olivenöl mit Schalotten mitschmoren. Ein Spritzer Weißweinessig bringt Spannung, ein Hauch Petersilie Frische. Lauwarm serviert, umweht von einem Tropfen Trüffelöl, ist dieses Gericht nicht Salat, sondern eine duftende Szene aus dem Mai.
Das Morchelragout
Elfie Casty, eine feinsinnige Köchin aus der Schweiz, pflegte es so: Morcheln in Butter, mit Frühlingszwiebel, Knoblauch und einem Zweig Thymian – dann ein Schuss Madeira, ein Schuss Weißwein, etwas Fond. Alles kocht sich sirupartig zusammen, ehe Rahm hinzukommt. Die Sauce schmiegt sich an die Pilze, cremig und würzig, mit einer Spur Curry und Zitrone aufgehellt. Ein Gericht, das nicht satt macht, sondern verführt.
Die Morcheltorte
Die Franzosen nennen sie „Tourte aux morilles“ – ein Blätterteig, der sich wölbt und unter der goldenen Hülle das Pilzaroma gefangen hält. Man schneidet ihn an, und der Duft entweicht wie ein Versprechen. In ihrer üppigen Variante sind Morchelspitzen gefüllt mit einem Mus aus Langustinen, gebettet in Sherry-Sabayon – eine Küche, die fast schon nach Oper klingt.
Die Suppe unter dem Blätterteighimmel
Paul Bocuse hat sie berühmt gemacht: eine Suppe, kaum mehr als ein kräftiger Fond, darin Morcheln, überzogen von einer Haube aus Blätterteig. Der erste Löffel gehört dem Duft – warm, erdig, tief. Es ist eine jener Speisen, die nicht nur den Hunger stillen, sondern eine ganze Erinnerung wecken.