Von zeitgenössischen Dichtern ist schon seit langem kein Hymnus auf den Mai zu hören. Moderne Poeten beweinen lieber sich selbst und die Schlechtigkeit der Welt. Dabei verdient gerade der Mai eine literarische Würdigung, denn er ist nicht nur für Romantiker und Verliebte, sondern auch für den Gourmet ein wahrer Wonnemonat. Im Mai gibt es, neben Spargel, Erdbeeren, Morchel, Rhabarber, Kräutern (wie Bärlauch und Kresse) sowie Wildsalaten (wie Löwenzahn, Brennessel, Kresse) spezielle Delikatessen, die uns kulinarisch erfreuen und Kraft spenden für den Rest des Jahres.
Der Maibock:
Das Reh gilt als Feinschmecker unter den Tieren, es zupft am liebsten Kräuter, junge Blätter, Knospen und Beeren. Und der ab Monatsmitte bejagbare Maibock hat, weil er sich von diesem frisch sprießenden Grün ernährt, das zarteste Fleischaroma. Der Rücken gebraten oder die Keule im Rohr geschmort gehören zum Feinsten, was die Wildküche bietet. Ein Klassiker ist der im Salz- oder Brotteig gegarte Rehrücken: dichter, unverfälschter Wildgeschmack, ein erzkulinarisches Erlebnis. Der Teig schützt das Fleisch und bewirkt ein absolut natürliches Aroma. Voraussetzung ist freilich erstklassige Wildqualität, was auch heißt: kein tiefgefrorenes Fleisch.
Wer den Maibock auf dem Markt kauft, sollte dies nur bei einem Wildhändler seines Vertrauens oder einem befreundeten Jäger tun, um die Garantie für Frische zu haben. Leider wird oft Fleisch als Maibock angeboten, das bereits tiefgefroren war.
Das Mairübchen:
Diese anmutig kugelig geformten, weiß bis zartrosa nebst einem Hauch von Lila gefärbten Knöllchen aus der Kohlfamilie mit dem feinen Geschmack von Radieschen und Kohlrabi, von den Franzosen Navettes genannt, lassen sich roh wie Rettich vernaschen oder angemacht als Salat. In den Genuß des feinen Geschmacks kommt freilich nur, wer sie nicht faustgroß auswachsen läßt, sondern sie bereits im Mai, spätestens im Juni als „Navets nouveau“ aus der Erde holt. Dicke Knollen mögen im Eintopf landen, die kleinen, jungen, zarten Navets sind zu höheren kulinarischen Ehren berufen, nämlich gratiniert oder, raffinierter noch, glasiert als Begleitung zu geschmortem Lamm, Rinderfilet, Bauernente aus dem Ofen oder sautierter Gänseleber. Dazu werden die Navets ganz und mitsamt ihren grünen Blättchen langsam in Butter mit Salz, einer großzügig bemessenen Prise Zucker, etwas Pfeffer und ein wenig Wasser zugedeckt etwa 20 Minuten weich geschmort. Das Karamell bildet einen spannenden Kontrast zum leicht herben Geschmack des Rübchens.
Für einen Salat werden die Mairübchen mit etwas Meersalz in eine Alufolie gewickelt und bei 160 Grad gute 20 bis 25 Minuten im Backofen gegart – mit einem spitzen Messer oder einem Zahnstocher läßt sich testen, ob die Rübchen gar sind. Im Alu-Mantel lauwarm abkühlen lassen, danach achteln oder in feine Scheiben schneiden, mit einer Vinaigrette aus Olivenöl, etwas Zitronensaft, Salz, Pfeffer und Schnittlauch marinieren und an kühlem Ort etwas durchziehen lassen.
Die Maischolle:
Vorausgesetzt, die im Fischladen oder Restaurant angebotenen „Maischollen“ sind frisch gefangen und entstammen nicht der Tiefkühlindustrie, ist dieser Plattfisch mit den charakteristischen rotgelben Pünktchen auf der dunklen Haut ein Leckerbissen der besonderen Art. Im Mai ist die Scholle deshalb so delikat, weil sie sich nach der Winterdiät mit Muscheln, Krebsen und kleinen Grundfischen ein Fleisch angefuttert hat, das so zart, saftig und aromatisch ist wie sonst das restliche Jahr nicht. Der Kenner wird vor allem Maischollen goutieren, die nicht über den Tellerrand hinausragen (um die 22 Zentimeter ist das rechte Maß) und wie eine Seezunge goldbraun in Butter oder knusprig mit Speck à la Finkenwerder gebraten sind.
Die Maiforelle:
Für die wilde Bachforelle gilt ähnliches wie für die Scholle: Im Mai geangelt schmeckt sie wegen der nach der kargen Winterzeit reichlich erbeuteten Insekten besonders köstlich. Die angemessene Zubereitung ist „blau“: Wasser, Weißwein, Essig, Salz, Pfefferkörner, Zwiebeln, Karotten und Petersilienwurzeln eine halbe Stunde köcheln, dann den Sud wallen lassen, die – ausgenommene – Forelle hineinlegen (ideal ist ein Gewicht um die 300 bis 500 Gramm), den Topf vom Feuer nehmen und den Fisch fünf, sechs Minuten nachziehen lassen. Mit zerlassener Butter, Kartoffeln und flankiert von einem eleganten Wein à la trockene Riesling-Spätlese von Mosel, Rhein oder der Wachau ergibt das eine Mahlzeit, bei der man das schöne Gefühl hat, das rings um einen nur maiwonnigliche Bejahung ist.
Die Maibowle:
Sie hat die Unsterblichkeit eines Klassikers. Noch vor zehn Jahren galt sie als Fossil, aber weil die wirklich guten Dinge alle Moden überdauern, erleben wir die gloriose Wiederkehr der mit Waldmeister parfümierten und nach Belieben mit Erdbeeren oder Orangenscheiben angereicherten Maibowle, einer Königin unter den Getränken, die bestrickend altmodischen Charme mit der ewigen Jugend des Frühlings aufs Innigste miteinander verbindet.
Eine Maibowle ist von Haus eine klare Sache und doch eine Angelegenheit, die Charakter erfordert. Wer sie spritzig mag, wird feinherbe Rieslinge von der Mosel verwenden. Will man die Bowle kraftvoller, sind Rieslingweine vom Rheingau, aus Rheinhessen, von der Nahe, der Pfalz, der Wachau oder dem Elsaß zu empfehlen.
Wie lange man den grünen Waldmeister, der noch nicht geblüht haben soll, im Wein ziehen läßt, ist Geschmacksache. Zehn Minuten reichen in der Regel für ein kleines, etliche Stunden vorgewelktes Sträußchen und einen Liter Wein. Frisch gepflücktes Kraut sondert übrigens weniger Aromastoffe ab als leicht angewelktes; schlägt das Parfum zu stark durch, so gießt man einfach Wein nach. Zu beachten ist, dass die unteren Stiele möglichst nicht mit dem Wein in Berührung kommen.
Zucker muß nicht sein; wer’s ein bisschen lieblich haben will, kann als Grundwein eine Auslese mit zarter Fruchtsüße nehmen oder trockenen Wein mit edelsüßem mischen. Cognac, wie in manchen Rezepturen vorgesehen, macht die Bowle unnötig schwer. Schaumwein kann, muß nicht sein. Mineralwasser ist eine Sünde: Wasser zum Wein ist vernünftig, Wasser im Wein überflüssig. Was den Reiz der Maibowle ausmacht, ist schließlich die Aromatisierung des Weins durch die leicht süßliche und zugleich zartbittere Würze des Waldmeisters, von dem der Mediziner Th. Tabernaementani 1664 in seinem Kräuterbuch schwärmte: „Im Mayen, wenn das Kräutleyn noch frisch ist und blühet, pflegen es viele Leite in den Wein zu legen und darüber zu trincken; soll auch das Herz stärken und erfreuen.“
Daß die Klasse der Bowle mit der Qualität des Weins steht und fällt, wusste schon Theodor Fontane, der seine „Maibowle a la Schaumburger Hof“ mit einer Flasche Champagner aufgießt. Damals konnte man von den Dichtern noch was lernen.