Sie sind handlich, duften nach 1 000 chinesischen Geheimnissen und heißen Dim Sum. Was so apart klingt, ist der klassische chinesische Quick-Lunch und im Westen der kulinarische Renner. Die New Yorker sind verrückt nach diesen leckeren Dampfteigbällchen – im „Golden Unicorn“, einem Esstempel am East Broadway, werden sie mit grünem Tee oder Reiswein serviert. In Chinatown von San Francisco sind die speziellen Dim-Sum-Lokale schon am Morgen rappelvoll, aber nicht nur mit Asiaten, sondern auch mit Langnasen, wie die Weißen dort genannt werden. Und Tim Raue, der erfolgreiche Berliner Koch mit einer Affinität zu Asiatica, bekennt: „Seit meinem ersten Besuch in Singapur bin ich süchtig nach Dim Sum.“
Einer hübschen Legende zufolge sollen die ursprünglich wohl aus der kantonesischen Küche stammenden Happen durch die Gier eines Kaisers nach immer neuen Gaumenlüsten zur Nationalspeise geworden sein. Die Köche im Kaiserpalast von Xi’an fürchteten um ihr Leben, wenn sie den Herrscher nicht befriedigten. Der hatte ihnen mit Hinrichtung gedroht, und weil die Kreativität der Herdkünstler bereits weitgehend erschöpft war, wagten sie es schließlich, dem kulinarisch gelangweilten Despoten für dessen zweites Frühstück eine Anleihe bei der Volksnahrung zu machen – Dim Sum waren als ideale und im Handumdrehen zu fertigende Resteverwerter geschätzt. Und siehe da, Majestät waren angetan von den tausendfach mit Huhn, Austern, Gänseleber, Froschschenkel, Pilzen, Schweineohren, Hühnerfüßen, Kutteln, weiteren Innereien, Wasserkastanien, Fisch, Gemüse und Meeresfrüchten gefüllten Teigtaschen.
Was die delikaten Schmankerln heute zum Trend werden ließ, ist schwer zu sagen. Ausgangspunkt der Dim-Sum-Welle ist jedenfalls Hongkong.
Von dort eroberte sich diese Spezialität erst die USA und danach London. Inzwischen bieten auch China-Lokale in Deutschland zunehmend Dim-Sum-Variationen an.
In Hongkong werden Dim Sum als Snack zwischen zwei Mahlzeiten geschätzt, aber man baut sie auch als Vorspeise in ein Menü ein oder isst sich mit einem Dutzend satt. Die Füllung der in Form von Päckchen, Täschchen und Röllchen servierten Mini-Gerichte besteht vorzugsweise aus Hackfleisch, Meeresfrüchten und Gemüse. Jedes gute China-Restaurant hat Dutzende von Dim Sum-Variationen im Programm. Die Klößchen im Teig liegen in aus Bambusspänen geflochtenen Körbchen mit Gitterböden. Beim Dämpfen stehen fünf bis sechs dieser Körbchen übereinander.
So vielfältig wie die Füllungen sind auch die Formen: mal muschelartig, mal wie Rosenblüten oder in Form von Geflügel wie Schwänen oder Hähnen, bevorzugt rund, oval und eckig, drapiert und gefältelt (Frau Shin Pi Mei Wang Rong, die Dim Sum-Meisterin im „Nanxiang Steamed Bun-Restaurant“ in Hongkong, besteht darauf, dass jede ihrer Teigtaschen exakt 24 Falten haben müsse).
Für Chinesen haben Dim Sum, poetisch gedeutet, den flüchtigen Zauber einer Mohnblüte am Wegesrand.
Was so exotisch klingt, läßt sich mit einiger Fingerfertigkeit leicht zu Hause nachkochen. Dem routinierten Hobbykoch gelingen sie mühelos, zumindest nach einigen Versuchen, wenn der Teig nicht mehr auf der Tischplatte und den Fingern klebrig haftet. Dim Sum werden aus Reis- oder Weizenmehl mit Wasser und Backpulver geknetet und sehr dünn ausgerollt (jeder Ravioli-Teig, wie er im Supermarkt angeboten wird, passt).
Damit die Bällchen nicht festkleben, muß der Bambuskorb vorsichtig eingeölt werden; alternativ werden Dim Sum mit feinem Back- bzw. Pergamentpapier, mit Bananen– oder Gemüseblättern unterlegt, wofür sich die äußerten Blätter eines Pak Choi oder auch Lotusblätter eignen. Form und Füllung sind der Phantasie überlassen. Wichtig ist zudem, dass sich die Teighäppchen während des Dämpfprozesses nicht berühren.
Dim Sum isst man aus der Hand
Aber am lustigsten ist eine Dim Sum-Orgie natürlich im Restaurant, wo Dim Sum-Spezialisten, so raunen sich die chinesischen Feinspitze ehrfürchtig zu, bis zu 500 Variationen im Repertoire haben. Dim Sum isst man aus der Hand und in der Regel ohne Beilage, ausgenommen Lor Bak Gou, einen aus Reis gebackenen Rettichkuchen, der gerne mit geschnittenen Pilzen, Frühlingszwiebeln und gehacktem Fleisch oder Würsten angereichert wird. Für westliche Gaumen gewöhnungsbedürftig sind sogenannte „Phoenix Claws“: gebratene und in Sojasauce, Knoblauch, Chili sowie Ingwer marinierte und schließlich gedämpfte Hühnerfüße. Messer und Gabel sind verpönt. Pikant gewürzt werden die kleinen Köstlichkeiten nur mit Sojasauce, die mit Chilipaste, Senf und Gewürzen geschärft und aromatisiert wird.
Neben einfachen Rezepten bieten ehrgeizige Köche auch Luxusversionen wie die im Hongkonger Ritz-Carlton servierten „Golden shrimp dumplings“ mit Garnelen, Bambussprossen und Spargel, serviert auf kostbarem Porzellan. Andere Gemüse-Krabben-Täschchen sind aromatisiert mit Kabeljauroggen oder gleich Kaviar vom Stör. Einer Sinfonie aus knusprigem Teig gleichen die mit Schweinefleischklößchen gefüllten und mit Mandelkruste verzierten Bällchen. Kulinarische Extraklasse bieten Dim Sum mit fein gewiegtem gebratenem Gänsefleisch, gekrönt mit Abalone, der teuren Meeresschnecke. Unter „Har Gau“ sind hauchdünn gefertigte Dim Sum, gefüllt mit ganzen oder klein gehackten Garnelen, Schweinefaschiertem, Pilzen und Bambus zu verstehen mit dem schönen Effekt, daß die Teighaut nach dem Dämpfen so durchsichtig wird, daß die Garnelen in appetitlichem Rot durchschimmern.
Das passende Getränk
Dazu passen: grüner Tee, Reiswein, Bier, trockene Weißweine mit Schmackes à la Chablis, Riesling-Spätlesen, bestens Grüner Veltliner aus Niederösterreich, Weißburgunder und Champagner. Letzteres mag snobistisch klingen, aber Schampus, notabene guter, ist ein idealer Tischpartner für die Küchen-Starlets namens Dim Sum.
kafel