GERICHTE MIT GESCHICHTE: Dim Sum: dampf­ge­garte Köstlich­keiten

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 4 Minuten

Sie sind handlich, duften nach 1 000 chine­si­schen Geheim­nissen und heißen Dim Sum. Was so apart klingt, ist der klassische chine­sische Quick-Lunch und im Westen der kulina­rische Renner. Die New Yorker sind verrückt nach diesen leckeren Dampf­t­eig­bällchen – im „Golden Unicorn“, einem Esstempel am East Broadway, werden sie mit grünem Tee oder Reiswein serviert. In Chinatown von San Francisco sind die spezi­ellen Dim-Sum-Lokale schon am Morgen rappelvoll, aber nicht nur mit Asiaten, sondern auch mit Langnasen, wie die Weißen dort genannt werden. Und Tim Raue, der erfolg­reiche Berliner Koch mit einer Affinität zu Asiatica, bekennt: „Seit meinem ersten Besuch in Singapur bin ich süchtig nach Dim Sum.“

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist dim-sum-g7fc83100b_1920-1024x683.jpg

Einer hübschen Legende zufolge sollen die ursprünglich wohl aus der kanto­ne­si­schen Küche stammenden Happen durch die Gier eines Kaisers nach immer neuen Gaumen­lüsten zur Natio­nal­speise geworden sein. Die Köche im Kaiser­palast von Xi’an fürch­teten um ihr Leben, wenn sie den Herrscher nicht befrie­digten. Der hatte ihnen mit Hinrichtung gedroht, und weil die Kreati­vität der Herdkünstler bereits weitgehend erschöpft war, wagten sie es schließlich, dem kulina­risch gelang­weilten Despoten für dessen zweites Frühstück eine Anleihe bei der Volks­nahrung zu machen – Dim Sum waren als ideale und im Handum­drehen zu ferti­gende Reste­ver­werter geschätzt. Und siehe da, Majestät waren angetan von den tausendfach mit Huhn, Austern, Gänse­leber, Frosch­schenkel, Pilzen, Schwei­neohren, Hühner­füßen, Kutteln, weiteren Innereien, Wasser­kas­tanien, Fisch, Gemüse und Meeres­früchten gefüllten Teigta­schen.

Was die delikaten Schman­kerln heute zum Trend werden ließ, ist schwer zu sagen. Ausgangs­punkt der Dim-Sum-Welle ist jeden­falls Hongkong.

Von dort eroberte sich diese Spezia­lität erst die USA und danach London. Inzwi­schen bieten auch China-Lokale in Deutschland zunehmend Dim-Sum-Varia­tionen an.

In Hongkong werden Dim Sum als Snack zwischen zwei Mahlzeiten geschätzt, aber man baut sie auch als Vorspeise in ein Menü ein oder isst sich mit einem Dutzend satt. Die Füllung der in Form von Päckchen, Täschchen und Röllchen servierten Mini-Gerichte besteht vorzugs­weise aus Hackfleisch, Meeres­früchten und Gemüse. Jedes gute China-Restaurant hat Dutzende von Dim Sum-Varia­tionen im Programm. Die Klößchen im Teig liegen in aus Bambus­spänen gefloch­tenen Körbchen mit Gitter­böden. Beim Dämpfen stehen fünf bis sechs dieser Körbchen überein­ander.

So vielfältig wie die Füllungen sind auch die Formen: mal muschel­artig, mal wie Rosen­blüten oder in Form von Geflügel wie Schwänen oder Hähnen, bevorzugt rund, oval und eckig, drapiert und gefältelt (Frau Shin Pi Mei Wang Rong, die Dim Sum-Meisterin im „Nanxiang Steamed Bun-Restaurant“ in Hongkong, besteht darauf, dass jede ihrer Teigta­schen exakt 24 Falten haben müsse).

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist image-18.png

Für Chinesen haben Dim Sum, poetisch gedeutet, den flüch­tigen Zauber einer Mohnblüte am Wegesrand.

Was so exotisch klingt, läßt sich mit einiger Finger­fer­tigkeit leicht zu Hause nachkochen. Dem routi­nierten Hobbykoch gelingen sie mühelos, zumindest nach einigen Versuchen, wenn der Teig nicht mehr auf der Tisch­platte und den Fingern klebrig haftet. Dim Sum werden aus Reis- oder Weizenmehl mit Wasser und Backpulver geknetet und sehr dünn ausge­rollt (jeder Ravioli-Teig, wie er im Super­markt angeboten wird, passt).

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist dim-sum-163813_1280-1024x682.jpg

Damit die Bällchen nicht festkleben, muß der Bambuskorb vorsichtig eingeölt werden; alter­nativ werden Dim Sum mit feinem Back- bzw. Perga­ment­papier, mit Bananen– oder Gemüse­blättern unterlegt, wofür sich die äußerten Blätter eines Pak Choi oder auch Lotus­blätter eignen. Form und Füllung sind der Phantasie überlassen. Wichtig ist zudem, dass sich die Teighäppchen während des Dämpf­pro­zesses nicht berühren.

Dim Sum isst man aus der Hand

Aber am lustigsten ist eine Dim Sum-Orgie natürlich im Restaurant, wo Dim Sum-Spezia­listen, so raunen sich die chine­si­schen Feinspitze ehrfürchtig zu, bis zu 500 Varia­tionen im Reper­toire haben. Dim Sum isst man aus der Hand und in der Regel ohne Beilage, ausge­nommen Lor Bak Gou, einen aus Reis gebackenen Rettich­kuchen, der gerne mit geschnit­tenen Pilzen, Frühlings­zwiebeln und gehacktem Fleisch oder Würsten angerei­chert wird. Für westliche Gaumen gewöh­nungs­be­dürftig sind sogenannte „Phoenix Claws“: gebratene und in Sojasauce, Knoblauch, Chili sowie Ingwer marinierte und schließlich gedämpfte Hühnerfüße. Messer und Gabel sind verpönt. Pikant gewürzt werden die kleinen Köstlich­keiten nur mit Sojasauce, die mit Chili­paste, Senf und Gewürzen geschärft und aroma­ti­siert wird.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist hanamaki-4374136_1920-1024x683.jpg

Neben einfachen Rezepten bieten ehrgeizige Köche auch Luxus­ver­sionen wie die im Hongkonger Ritz-Carlton servierten „Golden shrimp dumplings“ mit Garnelen, Bambus­sprossen und Spargel, serviert auf kostbarem Porzellan. Andere Gemüse-Krabben-Täschchen sind aroma­ti­siert mit Kabel­jau­roggen oder gleich Kaviar vom Stör. Einer Sinfonie aus knusp­rigem Teig gleichen die mit Schwei­ne­fleisch­klößchen gefüllten und mit Mandel­kruste verzierten Bällchen. Kulina­rische Extra­klasse bieten Dim Sum mit fein gewiegtem gebra­tenem Gänse­fleisch, gekrönt mit Abalone, der teuren Meeres­schnecke. Unter „Har Gau“ sind hauchdünn gefer­tigte Dim Sum, gefüllt mit ganzen oder klein gehackten Garnelen, Schwei­ne­fa­schiertem, Pilzen und Bambus zu verstehen mit dem schönen Effekt, daß die Teighaut nach dem Dämpfen so durch­sichtig wird, daß die Garnelen in appetit­lichem Rot durch­schimmern.

Das passende Getränk

Dazu passen: grüner Tee, Reiswein, Bier, trockene Weißweine mit Schmackes à la Chablis, Riesling-Spätlesen, bestens Grüner Veltliner aus Nieder­ös­ter­reich, Weißbur­gunder und Champagner. Letzteres mag snobis­tisch klingen, aber Schampus, notabene guter, ist ein idealer Tisch­partner für die Küchen-Starlets namens Dim Sum.

kafel

Ähnliche Beiträge

Käse oder Käse-Schwindel? Wie Urlauber echten Genuss erkennen – und sich vor Analogkäse schützen können
Käse oder Käse-Schwindel? Wie Urlauber echten Genuss erkennen – und sich vor Analogkäse schützen können
Die Verpackungen glänzen, die Präsentationen beeindrucken – aber was aussieht ...
Neuaus­richtung «La Chavallera»:
Neuaus­richtung «La Chavallera»:
Die Krone – Säumerei am Inn schärft ihr gastronomisches Profil
Eis: Genuß aus der Kälte seit antiker Zeit
Eis: Genuß aus der Kälte seit antiker Zeit
  Die Sehnsucht beginnt im Kopf und gleich darauf verlangt der ganze ...
Butterbrot: Triumph der einfachen Gaumen­freude
Butterbrot: Triumph der einfachen Gaumen­freude
Der Mensch, angetrieben vom Applaus der Gesellschaft, von Profit, Eitelkeit und ...