Gemessen an der Insel von Jim Knopf hat Madeira zwar keine Eisenbahn, dafür aber statt nur zwei Bergen eher Hunderte, steil abfallend in tiefe Schluchten; „viel Tunnels“ hat es daher in jedem Fall auch! Bereits am Flughafen von Funchal – hoch über dem Meer an den Klippen in die See ragend – erstaunt den Erstbesucher ein Relief der Insel, das die bergige, zerklüftete Landschaft beeindruckend darstellt. Der Flughafen liegt im Südosten, von dort geht meine Reise zunächst an der Ostspitze vorbei nach Norden, zu einem bekannten Wein-Hotel nach Santana. Es ist die Zeit des großen Weinfestivals, das auf Madeira zwei Wochen im September stattfindet. Die Vorfreude ist groß, schließlich ist die Insel der beliebte Klassiker des gemäßigten Klimas, mit ganzjährigen Temperaturen um die 20–25 °C, was auf Sonne pur schließen lässt. Schnell wird allerdings klar, dass es hier durchaus verschiedenste Klimazonen gibt.
Während sich die Südseite der Haupt-insel als Sonnenseite präsentiert, mit einem Großteil der Weinberge und Obstplantagen, so ziehen sich an der Nordseite Wolken und Nebelbänke zusammen, die für feuchtes und auf den Bergen der Insel auch kaltes Klima sorgen. In der Mitte der Insel dominieren steile Berge und tiefe Täler, an einigen Stellen unterbrochen von Hochebenen.
Levadas – Lebensader nicht nur für Wandertourismus
Das Ungleichgewicht zwischen feuchtem Norden und trockenem Süden erkannten bereits die ersten Siedler vor hunderten von Jahren. Sie legten ein umfangreiches Netz von Bewässerungskanälen an, die von den Quellen und Bächen der Berghänge bis in die Anbaugebiete der Insel führten. Diese „Levadas“ werden noch heute in verschiedenster Form genutzt. Dem wanderfreudigen Reisenden erschließt sich jedoch zumeist das System der Levadas in den Dutzenden von Wanderwegen entlang verschiedener, meist uralter Kanäle in den Gebirgsgegenden der Insel.
Hierüber gibt es zahlreiche Reiseführer und vor Ort Levada-Karten, auf denen neben den Routen auch wichtige Ratschläge zu Sicherheit und Ausrüstung gegeben werden. Denn während einige Wege selbst für Rollstuhlfahrer geeignet sind, stellen andere selbst für geübte Wanderer ein ziemliches Abenteuer dar. Angesichts teils extrem steiler Berghänge, an deren Kanten neben den an den Felsen entlang laufenden Kanälen oft nur noch eine schmale Steinmauer den Wanderer vom Abgrund trennt, sollte man die Hinweise durchaus ernst nehmen. Zum Glück gibt es aber eine große Auswahl von Levada-Wegen, viele davon sind auch einfach und in kurzer Zeit zu erwandern. An den Wegen wächst wild und ganz selbstverständlich eine Vielzahl von Blumen, die der Insel einen der Beinamen gegeben haben.
Wer abseits der Wander-Levadas die Augen offenhält, der findet die kleinen Kanäle heute auch in Obst- und Weinbergen wieder; der ursprüngliche Zweck ist also keinesfalls aus der Mode gekommen.
Größere Anbauflächen sucht man auf der Insel vergeblich – zu zerklüftet ist die Landschaft, und so werden die landwirtschaftlichen Produkte von unzähligen Kleinbauern angebaut und von Kooperativen aufgekauft und weiter verarbeitet. Die in Terrassen oder an Steilhängen verlaufenden Pflanzungen offenbaren sich auch dem Reisenden deshalb nicht sofort. Und das gilt nicht nur für Weinberge, von denen man ohnehin angesichts des Nischenproduktes „Madeira-Wein“ nicht viele erwartet.
Europas einziger „Festland-Rum“
Doch zunächst soll nicht vom Wein die Rede sein. Verfügt doch Madeira über ein anderes beliebtes Getränk, dessen Produktion man eigentlich erst viel weiter westlich vermutet.
Madeira war bereits für Columbus ein wichtiger Versorgungs-Stopp auf der Seereise nach Westindien. Auch für den Handel der Portugiesen war die Insel bedeutsam; das Zuckerrohr nahm jedoch den entgegengesetzten Weg. Ursprünglich beheimatet in Asien, gelangte es über das Mittelmeer schließlich nach Madeira, wo es sehr gut gedieh. Erst später wurde es auch in der Karibik und in Mittel- und Südamerika eingeführt. Mit der Zeit wurde neben der Zuckergewinnung bald auch der „Aguardente de Cana“, der Zuckerrohr-Brand, hergestellt. So ist es eigentlich nicht überraschend, dass es noch heute auf Madeira zwei Brennereien gibt, die vornehmlich Rum, aber auch andere Varianten des Zuckerrohrschnapses herstellen. Rund 200 Familien leben noch heute auf Madeira vom Zuckerrohr-Anbau! Rum, Poncha, Liköre und der Export halten den früher sehr dominierenden Wirtschaftszweig am Leben, nachdem die Importe aus der Neuen Welt den Zuckerhandel Madeiras nahezu verdängten.
Auf Madeira gibt es zwei Destillerien, von denen die eine, Engenho Novo, für Besucher nicht zugänglich ist, deren Produkte aber unter der Marke „William Hinton“ exportiert werden und inzwischen auch in Deutschland erhältlich sind. Die andere, Engenhos do Norte, liegt im Nordosten der Insel und ist sehr gut auf Besucher vorbereitet. In der Produktionshalle ist ein Infosystem installiert, der Shop ist reich ausgestattet. Die Destillerie bietet ihre Produkte nur auf Madeira an. Alle Arbeitsschritte sind sehr traditionell, so werden die Zuckerrohrpressen noch mit Dampf betrieben.
Die madeirischen Rumproduzenten sind sehr stolz darauf, den einzigen „europäischen Rum“ zu produzieren, und das nach ähnlich strikten Regeln wie sie für den „Rhum Agricole“ gelten. Während jener aus französischen Übersee-Gebieten stammt, gilt Madeira administrativ als „Festland-Portugal“, somit machen die hiesigen Destillerien das Alleinstellungsmerkmal für sich geltend; immerhin liegt Madeira ja auch dem europäischen Festland am nächsten. Wie beim Rhum Agricole kann man sich sicher sein, dass der Rum weder gezuckert noch irgendwie sonst verändert werden darf und aus reinem Zuckerrohrsaft destilliert wird.
Interessant sind auch die verschiedenen verwendeten Holzfässer für die Produktion vor allem bei William Hinton: Neben den klassischen weißen und jungen, milden Rumsorten spielen vor allem diverse länger gereifte Versionen eine Rolle. Wie beim Whisk(e)y gilt schließlich auch hier: 60–70 % der Aromen kommen aus dem Fass. Das gilt natürlich erst recht bei längerer Lagerung wie in Amarone‑, Sauternes‑, Port- oder Sherry-Fässern. Natürlich gibt es unter den sechsjährigen Limited Editions von Hinton auch eine aus dem Madeirawein-Cask. Was nicht zuletzt zu einem interessanten Kreislauf beiträgt …
Fortified – der einzigartige Wein der Insel will verstanden sein
Der mit Branntwein verstärkte Wein aus Madeira ist in vielerlei Hinsicht eine Besonderheit. Oft verglichen mit Port oder Sherry, hat er außer dem Zusatz von Hochprozentigem jedoch nicht viel mit jenen gemein.
Die Erwärmung des Grundweines ist geschichtlich dem Umstand zu verdanken, dass der von portugiesischen Entdeckern und Händlern mitgeführte Wein auf langen Seereisen in warmen Gefilden immer wieder stark erwärmt wurde und dadurch an Geschmack gewann. Die Stabilisierung und langfristige Konservierung durch Zusatz von Brandy kam erst mit der Zeit auf. Die Verwandlung durch die Seereise führte zum Begriff des „Tornaviagem“ – Wandel durch die Reise.
Heute wird die Erwärmung entweder technisch über mehrere Monate mit anschließender Stabilisierung in großen Holzfässern durchgeführt (Estufagem-Methode) oder traditionell durch die Lagerung der Fässer unter der Sonne. Die großen Fuder der Marke „Blandys“ aus brasilianischem Seidenbaumholz können in der ehemaligen Produktionsstätte in Funchal bewundert werden.
Man unterscheidet bei Madeira-Wein traditionell zwischen Weinen verschiedener Altersstufen – diese können aus mehreren Rebsorten bestehen – und den rebsortenreinen, nach Jahrgängen bezeichneten Weinen: Colheitas bzw. Vintage genannt.
Madeira wird aus fünf Weißwein-Reben und einer roten Rebsorte gewonnen. Sercial erzeugt trockene Weine, Verdelho halbtrockene und Boal halbsüße Weine, während Malvasia (oder auch Malmsey) für die Süßweine steht. Die einzige rote Sorte Tinta Negra bringt eher süße Weine hervor, ist aber in den Anbaurichtlinien Madeiras bislang nicht so festgelegt wie die anderen Sorten. Eine Rarität, weil sehr empfindlich, ist die Terrantez, die von trocken bis süß sehr flexibel ist. Die rebsortenreinen Madeiras (zu 85 % eine Sorte) müssen die Rebsorte im Etikett führen, so ist auch der Charakter schnell zu erkennen. Als Colheita mit Jahrgangsbezeichnung hat man also einen besonders hochwertigen Wein eines bestimmten Jahrgangs.
Die Madeiras mit Altersangabe sind ab fünf bis über 20 Jahre in fünfjährigen Stufen definiert. Hier geht es nicht nach einem exakten Alter, sondern das Weininstitut bestimmt die Zulassung nach dem Geschmacksstil des Weines, der einer bestimmten Altersstufe entsprechen, aber dieses Alter nicht aufweisen muss. Die Rebsorte muss hier nicht genannt sein, da es traditionell Blends sein können; der Trend geht aber auch hier zu reinsortigen Madeiras mit Rebsortenangabe. Hier wird die Unterscheidung aber erleichtert durch die Angabe des Stils – von „Dry“ bis „Rich“. Diese Kennzeichnung auf dem Etikett ist die derzeit klarste Abgrenzung von den Colheita-Madeiras.
Inzwischen bestimmen aber natürlich auch beim Madeira nicht nur die Rebsorten den Geschmack. Längst haben hier verschiedene Fasstypen Einzug gehalten. So findet man bei Henriques & Henriques im traditionellen Wein-Ort Camara de Lobos auch Rumfässer von Hinton, die zur Madeira-Reifung der Blends verwendet werden.
Madeira – ein Fest nicht nur für den Gaumen
Sollten Sie zu Beginn Ihrer Madeira-Reise nach regionalen Spezialitäten Ausschau halten und im reichhaltigen Angebot auch den „Espetada“ im Angebot finden, so können Sie getrost erst einmal etwas anderes nehmen – denn diesen Klassiker der Madeira-Küche, den Fleisch-Spieß vom Grill, finden Sie im Grunde auf jeder Speisekarte. Am besten schmeckt er, wenn Sie beim Grillen zusehen können. Serviert wird dann direkt vom Spieß auf den Teller, oder Sie bekommen einen ganzen Spieß auf einem Gestell an den Tisch.
Fisch ist natürlich in aller Vielfalt zu haben, von Muscheln über Thunfisch, als Vorspeise nach Tapas-Art oder als Hauptgericht, bis zum zweiten Klassiker Degenfisch, ein weiteres Beispiel für das üppige maritime Speisen-Angebot der Insel, die überdies mit viel Obst und Gemüse aufwartet, alles herrlich frisch, meist aus der Nachbarschaft. Bei den Einheimischen sind die „Milho Frito“, kleine Maiswürfel, als Beilagen sehr beliebt, ebenso wie Süßkartoffeln.
Neben den meist nicht sehr beeindruckenden Weißweinen – Rotweine sind selten – ist vor allem nach dem Essen der „Poncha“ erwähnenswert, er wird meist aus Zitronensaft, Honig und Zuckerrohrschnaps gemischt, ist häufig recht stark und je nach Mischung auch süß. Traditionell mit dem „Pau de Poncha“ aus Orangenholz zusammengequirlt, haben sich verschiedenste Varianten entwickelt, die in speziellen Bars auch als Spezialität angeboten werden.
Als Dessert bzw. Süßigkeit sind wie auf dem Festland die „Pastéis de Nata“, kleine Blätterteigpasteten mit Cremefüllung, ein Muss. Die traditionellen Honigkuchen, vergleichbar mit Früchte- oder Lebkuchen, sind hier nicht nur zur Weihnachtszeit beliebt.
Kulinarik als Lohn harter Arbeit – das muss gefeiert werden
Die schwierigen Anbau-Bedingungen kann man überall an den Hängen der Insel erahnen oder bei Levada-Wanderungen nachempfinden. Beeindruckend sind aber auch einige andere winzige Enklaven des Obst- und Weinanbaus, die bis vor kurzem nur durch recht primitive, abenteuerliche Seillift-Fahrten zugänglich waren. Inzwischen sind die strandnahen Plantagen weit unterhalb der Klippen mit modernen Seilbahnen für Touristen zugänglich, die auch den Ansässigen Leben und Arbeit erleichtern. So gelangen die Reben, Bananen und anderen Früchte zum Beispiel von der Fajo dos Padres an der Südküste zu Märkten und Madeira-Weinfirmen. Einheimische und Reisende kommen zum Baden, Sonnen oder Speisen im kleinen Restaurant, und auch ein paar Gästezimmer in kleinen, schönen Ferienhäusern gibt es.
Dafür muss man aber nicht zwingend Seilbahn fahren. Bereits am Flughafen und wahrscheinlich schon bei der Reisebuchung wird man daran erinnert, dass Madeira durchaus ein Pauschalreiseziel ist. Im großen Weinhotel sind die mehrsprachigen Infos erst auf Deutsch und zuletzt auf Portugiesisch, und viele Hotels schmücken sich an den Eingängen mit großen Veranstalter-Logos. Wer es exklusiver haben möchte, muss sich nach kleinen Hotels oder nach den edlen mondänen Herbergen umsehen bzw. bei kleinen Reisespezialisten anfragen. Neben dem legendären „Reeds“ am Rande von Funchal gibt es weitere Traditionshäuser, von Quintas und Casas bis hin zu parkumsäumten Bauten im Kolonialstil.
Madeira weiß seine kulinarischen Genüsse – allem voran natürlich den Wein – gebührend zu feiern. Das Madeira Weinfestival in den ersten Septemberwochen ist nicht nur für Touristen gemacht. Hier feiern sich die hart arbeitenden Weinbauern und lassen die ganze Insel mit ihren Besuchern teilhaben. Zahlreiche Verkostungen, Partys, Dinner und eine Wein-Probiermeile in Funchal tragen zu den Festivitäten bei, die am Schluss in einem großen Umzug in Camara de Lobos münden, der die ganze portugiesische Farbenpracht widerspiegelt, und bei dem die Mentalität der Insulaner die Gäste ansteckt mitzufeiern.
Am letzten Tag gehört ein Barkeeper-Wettbewerb zum Höhepunkt des Weinfestes, bei dem ganz selbstverständlich auch die flanierenden Festival-Gäste zum Schauen und Kosten eingeladen sind.
Der „Concurso Mixologia“ bringt auch Madeirawein und Rum wieder zusammen, neben einer Fülle weiterer Zutaten für Drinks und Cocktails, die schon für das Auge ein Hochgenuss sind.
Im Osten und Westen der Insel sind bereits die nächsten Kreationen in Arbeit. Dort werden die Apfelernten lokaler Bauern zu Sidra, einem herrlich trockenen, frischen Apfelwein verarbeitet. Die Quinta Pedagogica in Praderez kümmert sich auf Initiative eines Padres seit vielen Jahren um die Verarbeitung und Vermarktung lokaler Produkte der Landwirtschaft, so wird eine breite Palette – von Beerenlikören über Honig bis eben hin zum Sidra – geboten, für die die Quinta gern auch Exportkontakte knüpfen will.
Madeira ist also selbst abseits von Wein, Rum und Espetadas ein Reiseziel für kulinarische und landschaftliche Überraschungen – auch ohne Eisenbahn … !
Christian Rümmelein