Küchen­klas­siker: Königs­berger Klopse – populär und vielfach verhunzt

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 5 Minuten

Unter classicus verstanden die alten Römer „zum ersten Rang“ gehörende Werke von formvoll­endeter Harmonie – und Geschmack, wenn es ums Essen ging. Klassiker der Kochkunst sind auch heute überall dort zu Hause, wo ein Koch am Herd steht, der sich nach dem Ausreizen aller techni­schen Innova­tionen und Grenzen wieder den bewährten Rezepten nach dem Leitmotiv „Küche statt Bling-Bling“ widmet. Das Genus­s­atelier präsen­tiert eine Klassiker-Serie als Hommage an die Kochkunst mit Gerichten aus der Hoch- wie der Bürger­küche von ewigem Geschmack und zeitloser Schönheit.

Heute: Königs­berger Klopse


Histo­risch gesehen ist der Knödel klassi­scher Machart eine eher unbekannte Größe. Niemand weiß genau, wann und wo von wem der erste Semmel‑, Speck‑, Kartoffel- oder Leber­knödel geformt worden ist. Die älteste bildliche Darstellung befindet sich in der Burgka­pelle von Hocheppan nahe Bozen. Das Fresko aus dem 12. Jahrhundert zeigt neben dem Wochenbett Marias eine Wehmutter, die in der einen Hand ein Kochge­schirr mit fünf kugel­runden Knödeln hält und mit der anderen einen Knödel zum Mund führt. Mit Sicherheit ist anzunehmen, dass es weit früher knödel­ähn­liche Speisen gegeben hat. Die runde, mit Händen leicht formbare Gestalt lud geradezu zwingend zur Erfindung der kugeligen Form ein. Jeden­falls tauchte der Urknödel aus den Töpfen des Mittel­alters scheinbar plötzlich und ohne Vorwarnung in der neueren Küchen­ge­schichte auf, wahrhaft, nahrhaft und vor allem rund.

Auch der Königs­berger Klops hat seine Mythen. So populär er ist – laut einer Forsa-Umfrage kennen ihn 93 Prozent der Deutschen – , so wenig weiß man über die Geschichte dieses ostpreu­ßi­schen Tradi­tio­na­listen, der übrigens wie viele Klassiker darunter zu leiden hat, dass er von der Lebens­mit­tel­in­in­dustrie schamlos verdost und von Schlampern in der Küche bis zur Unkennt­lichkeit verhunzt wird. Immer wieder vergreifen sich Köche an solchen gehei­ligten Rezep­turen – der Popula­rität folgt ja bekanntlich auch in Kulinarien oft die Entwertung durch Banausen.

Die wahre Herkunft: Königsberg oder doch ganz woanders?

Kultur­his­to­riker bezweifeln aller­dings Königsberg als Urheimat; wahrscheinlich sei das Gericht mit der charak­te­ris­ti­schen säuer­lichen Soße auch in Westpreußen und Teilen von Polen sowie des Baltikums heimisch gewesen. Tatsächlich ist in den Kochbü­chern vor 1875 kein Hinweis auf Königsberg zu finden. Statt­dessen hießen Gerichte, die in ihrer Zusam­men­setzung dem heutigen Königs­berger Klops ähneln, schlicht „Klopps von Kalbs­fleisch“, „Preußi­scher Klopps“ oder auch „Danziger Klopps“ (Mecklen­bur­gi­sches Kochbuch von 1868).

Und „Klops“, so wird es im „Gastro­no­mi­schen Lexikon“ von Scheichelbauer/Giblhauser 1908 definiert, „ist ein von Sehnen u. Fett befreites, gehacktes Fleisch von Wild, Rind oder Schwein, in Form von Koteletten oder Knödel gebracht“. Die erste geogra­fische Zuordnung bietet Meyers Konver­sa­ti­ons­le­xikon von 1888: „Klößchen oder kotelett­förmige Scheiben aus gehacktem Rindfleisch oder aus einer Mischung von Rind‑, Kalb- und Schwei­ne­fleisch, werden entweder gebraten oder gedünstet und dann mit einer pikanten weißen Sauce serviert (Klops à la Königsberg).“

Den Klopps erklärt Pierers Universal-Lexikon 1857 noch so: „…den Beefsteaks ähnliche Speise aus dünnen Stücken Fleisch, die vorher mit einem hölzernen Hammer mürbe geklopft werden, mit Häring, gerie­bener Semmel, Zwiebel, Sardellen, Citronen etc. in Butter geschmort.“

Der Klops leitet sich wohl vom nieder­deut­schen „Kloppen“ für klopfen ab – schließlich ist der Fleischwolf erst um 1850 herum erfunden worden, bis dahin wurde Fleisch für Hackspeisen erst weich geklopft und dann fein geschabt.

Klops-Defini­tionen und frühe Rezepte.

Varia­tionen: Salzhering oder Sardelle?

Aufs Ganze gesehen, versteht man küchen­tech­nisch unter Königs­berger Klopsen heute gekochte, mit gehacktem Salzhering (oder Sardellen), Zwiebeln, einge­weichtem Weißbrot, Ei sowie Gewürzen angerei­cherte Fleisch­bällchen, die in Salzwasser (oder in der Luxus­va­riante mit einer Fleisch­brühe) mit Zwiebeln, Pfeffer, Piment und Lorbeer (nach Belieben mit Essig oder Weißwein aroma­ti­siert) gegart und danach in der typischen weißen Sauce, angerührt aus der durch­ge­siebten Kochbrühe mit heller Mehlschwitze, Sahne und Eigelb nebst Zitro­nensaft und Kapern serviert werden.

Gängige Beilagen sind Salzkar­toffeln oder Reis, auch einge­legte Rote Bete gelten als klassisch.

Offen ist die Wahl des Fleisches, Rind ist ebenso erlaubt wie Schwein oder Kalb sowie eine Mischung aus allem. Im „Leibge­richt“, 1955 erschienen, werden die Königs­berger Klopse so beschrieben: „Soßklopse, wie man in Ostpreußen sagte, wurden sonntags in vielen bäuer­lichen Familien gegessen. Gemah­lenes Rind- und Schwei­ne­fleisch wird mit Reibbrot, Salz, Pfeffer, Zwiebeln und einem Ei zu einem Teig geknetet und kleine Kugeln, also Klopse, daraus geformt. Diese werden in Wasser, das mit Salz, Zwiebeln, Selle­rie­stückchen und Lorbeer­blatt gewürzt ist, gar gekocht. Die Soße rührt man mit Sahne, eventuell auch noch mit einem Ei an. Grüne, fein geschnittene Peter­silie wird zum Schluß überge­streut.“

In der Oecono­mische Encyclo­paedia von Johann Georg Krünitz (1787) wird der „Preußische Klopps“ als Samstags­mahlzeit präsen­tiert, während er in Gaststätten samt einem Glas Wein zum Frühstück serviert würde.


Tim Raue und sein finessig modifi­zierter Klops

Läßt sich ein Wiener Schnitzel, zubereitet aus Kalbfleisch, liebevoll paniert und in reichlich heiß zischendem Fett, ob Butter­schmalz oder eine Mischung aus Schwei­ne­schmalz und Butter, mittels rhyth­misch hin und her bewegter Eisen­pfanne, geschmacklich verbessern? Nein, allen­falls verändern.

Einer, der sich eines Klassikers annimmt und den im besten Sinne verfeinert, ist Tim Raue. Dessen Königs­berger Klopse sind nahe am Original, der Meister formt die Rundlinge aus Hack, gekochten Backen sowie Zunge vom Kalb mit Eigelb und Senf – und die werden in einer mit Geflü­gelfond und Riesling-Auslese gerührten Rahmsauce aufge­tischt. Derzeit bietet Tim Raue im Berliner Fernsehturm, den er bewirt­schaftet, eine Variante an.


Eine allge­mein­gültige, sozusagen absolute Rezeptur gibt es nicht.

Abgesehen von der Freiheit bei der Fleischwahl bestehen von Kochbuch zu Kochbuch – und mehr noch von Haushalt zu Haushalt – erheb­liche Unter­schiede bei der Angabe der Ingre­di­enzien bis hin zur Frage: Salzhering oder Sardelle? Henriette Davidis läßt in ihrem Klassiker von 1845 (»Prakti­sches Kochbuch für die bürger­liche und feine Küche«) beides gelten: »In die Sauce tut man 2 Eßlöffel fein gewiegte Sardellen oder einen gut gewäs­serten, fein gewiegten Hering.« Die Klöße formt sie aus 1/2 kg gewiegtem Rindfleisch und 125 g gewiegtem Schwei­ne­fleisch mit 2 Eiern, 1 einge­weichten Milchbrot plus gerie­bener Semmel. Im Mecklen­bur­gi­schen Kochbuch der Frieda Ritzerow (1868) wird für den Danziger Klopps fein gehacktes Rindfleisch plus Nierenfett vorge­schrieben. Die Autorin plädiert für Sardellen „oder in Erman­gelung derselben einen Hering“.

Emma Quenzer empfiehlt in ihrem 1933 präsen­tierten »Koch- und Haushal­tungsbuch« eine Mischung aus halbe­halbe Rind- und Schwei­ne­fleisch; die weiteren Zutaten à la Eier, Butter, Zwiebel, Weckmehl, Salz, Pfeffer, Muskat, Mehl, Zitrone, Sardellen und Kapern sind standar­di­siert. Großzügig bemißt die Lehrerin der Koch- und Haushal­tungs­schule des Schwä­bi­schen Frauen­vereins in Stuttgart die Butter­zugabe mit 160 Gramm, ihre »Klops­brühe« ist ein Sud »von den Fleisch­ab­fällen« und weil ihr das wohl etwas zu karg scheint, fügt sie in Klammer als aroma­ti­sie­rendes i‑Tüpferl ein Glas Weißwein hinzu.

Beschei­dener gibt sich Franz Ruhm, der Wiener Koch, der in seinem 1933 erschie­nenen »Kochbuch für Alle« die Klöpse in Salzwasser köcheln läßt und die in einer »dicklichen Sauce« aus 40 Gramm Mehl und ebenso viel Butter zuzüglich der »Klops­suppe« mit einigen Kapern »noch eine Weile dämpfen läßt«. Immerhin besteht der Mann auf Kalbfleisch »von allen Häuten befreit«.

Richard Hering besteht in seinem „Lexikon der Küche“ von 1961 wiederum auf geschabtem Rindfleisch und Schwei­ne­fleisch sowie auf Salzsar­dellen. In ihrem gelben Kochbuch verlangt Elly Petersen (1937) im Gegensatz zum „Klops mit Sardel­len­sauce“ für den Königs­berger Klops „statt der Sardellen 1 Salzhering“, der, gewässert, geputzt und fein gewiegt, jeweils zur Hälfte für die Klopse und die Herings­sauce verwendet wird, der man „auf Wunsch auch einige Kapern beigibt“.

Herbert Birle plädiert in seiner „Sprache der Küche“ gleich­falls fürs Sardel­len­filet, erlaubt jedoch liberal auch Sardel­len­paste. Es darf angenommen werden, dass in begüterten altdeut­schen Familien die Klopse aus Kalbfleisch und Sardellen bestanden, wohin­gegen man sich in ärmeren Haushalten mit Schwein und Hering begnügte. Und Kapern waren im 19. Jahrhundert eine teure Delika­tesse. Halbwegs einig waren sich die profes­sio­nellen Köche bezüglich des Würzens, bereits früh finden sich in den Rezepten die Zitrone (entweder als Saft oder fein geriebene Schale) nebst klein gehackten Sardellen, Kapern, Muskat und dem Lorbeer­blatt als Zutaten für die charak­te­ris­tische pikant ins leicht Säuer­liche weisende Note.

Otto Nebelthau, der Romancier und geist­reiche Autor kulina­ri­scher Schriften, läßt nur Schwei­ne­fleisch zum Klops gelten, der nach seinem eigen­willig angelegten Rezept mit winzigen Würfelchen Weißbrot, Ei, etwas Mehl, etwas Semmel­brösel, zersto­ßenem Zwieback und einer Spur Basilikum geformt wird. Die weiße Soße negiert er zugunsten von gebut­tertem Reis mit reichlich Kapern: „ein richtiges Schmau­se­ge­richt.“

„Es ist nicht zweckvoll, für den Klops ein Rezept zu geben, behauptet wiederum Ernst Marquardt 1935 in der deutschen Heimat­küche, “denn jede Hausfrau nimmt für ihn, was sie eben hat: viel Fleisch, viele Eier, wenig Brot, gute Fleisch­brühe.“ Und er mutmaßt: „Ob der Klops nun wirklich in Königsberg behei­matet ist oder nicht, gegessen wird er jeden­falls in Deutschland überall, wo sorgende und sparsame Hausfrauen ihres Amtes walten.“

Ob bäuer­liche Famili­en­küche oder Gourmet­re­staurant: Königs­berger Klopse sind ein kulina­ri­sches Erbe, das Respekt verdient

Der Phantasie sind beim Klops­machen also wenige Grenzen gesetzt. Anderer­seits sollte man nicht zu kühn experi­men­tierten. Ein Klassiker wie der Königs­berger Klops ist vollendet kompo­niert und bedarf keiner neuen Töne. Er ist frisch vom Herd eine köstliche Vulga­rität, basierend auf dem Motto: „Jeder Knödel ist rund, aber nicht alles Runde ist ein Königs­berger Klops.“

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