Die Engel spielen Mozart statt Bach:
Wenn der Sommer in grellen Farben aufglüht und der Himmel im Lichte kommender Zärtlichkeiten erstrahlt, gibt es nichts Schöneres als ein Essen im Freien. Die Rosen duften mit dem Thymian und dem Lavendel um die Wette, Grillen zirpen, Mücken fliegen ihre Hochzeitstänze. Jeder kennt diese Sinfonie der Sinnlichkeit. Man räkelt sich dem Himmel entgegen und genießt die Schmauserei im Grünen mit der Wiese als natürlichem Eßtisch. Es scheint, dass die Lust am Genuss im Grünen in Zeiten sozialer und wirtschaftlicher Spannungen besonders stark ausgeprägt ist. Mag sein, dass der aktuelle Picknick-Trend auch mit der zunehmenden Verstädterung der Natur und der daraus resultierenden Sehnsucht nach heiler Umwelt zu tun hat.
Na und, sagen jetzt die Biergartengeher im Verein mit Weinlaubenhockern und Grillmeistern, na und, das erleben wir ständig. Gewiß, so reizvoll eine Maß Bier unter Kastanien ist, so amüsant es ist, in einem der innerstädtischen Trottoir-Cafés das Leute-beobachten-Spiel zu praktizieren, aber das Essen und Trinken auf der Wiese hat seine eigenen Gesetze. Man fühlt anders als in einem geschlossenen Raum. Tauscht man die Wände gegen den nach oben hin offenen Horizont, muss man eventuell gewisse atmosphärische Widrigkeiten billigend in Kauf nehmen wie etwa säuselnden Wind, ins Glas fallende Blätter oder ungebetene Insekten. Zudem hat die frische Luft, auch wenn sie lau ist, eine besondere Chemie, die schon mal filtrierend auf die Sinnesorgane wirken kann. Draußen erfasst man die Raffinesse einer Küche oder die grazilen Nuancen eines großen Weins nicht so detailliert wie drinnen.
Doch Picknicken hat seine spezifischen Reize, trotz Insekten und der Tatsache, dass ein Essen im Freien natürlich anders schmeckt als im Restaurant. Picknicken ist mehr als bloße Nahrungsaufnahme unter freiem Himmel. Die in einem öffentlichen Park verzehrte Wurstsemmel oder das Jausenbrot mit Tee aus der Thermoskanne im Rucksack des Wanderers haben nichts mit Picknick zu tun – obwohl sich das Wort, wie Sprachforscher versichern, von „pick a nic“ herleitet, was soviel bedeutet wie: “Schnapp dir eine Kleinigkeit.“ Gepflegtes Picknicken, also eines mit Stil, erfordert neben der Idee und Raffinesse bei der Planung auch Unerschrockenheit bei der Durchführung, Wetterfestigkeit inklusive.
Schließlich geht es darum, im Freien ein Maximum an Essenskultur zu arrangieren.
Ideen für das perfekte Picknick
Bei der Verwirklichung hat die Phantasie großen Spielraum. Schinken gehört nebst Würsten, Käse (vielleicht ein Potpourri aus cremigem “Brie de Meaux“, etwas Ziege, altem Gouda und Parmigiano Reggiano), Oliven, Tomaten, Essiggurken, hart gekochten Eiern, Räucherlachs, Butter und diversen Brotsorten zum Standardprogramm eines Picknicks. Die einfache Variante mit Frikadellen und Kartoffelsalat ist gleichberechtigt der schicklichen mit Thermoskanne und Streuselkuchen sowie der eleganten mit Pasteten, Meeresfrüchten und Champagner oder der rustikalen Version in Form einer Barbecue-Party im Park oder am Strand.
Die Lust am Essen aus dem Korb eint die Menschen über alle sozialen Grenzen hinweg, nur die Formen, der Ablauf des Rituals und die Speisen nebst den Getränken sind Zeit und Mode unterworfen, freilich auch abhängig von dem zur Verfügung stehenden Geld. Grundsätzlich hängt die Inszenierung von Appetit, Geschmack und finanziellem Potential ab. Darf es etwas nobler sein, so ist eine getrüffelte Gänseleberterrine keine schlechte Wahl. Auch Kaviar aus der großen Blechdose vermag ein Picknick mit einem aparten Hauch von Luxus zu erfüllen. Andererseits ist ein kaltes Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat ein Erlebnis der besonders herzhaften Art. Salate, bereits zu Hause angemacht, bereichern das Mahl im Grünen ebenso wie Wildpastete mit Preiselbeerkompott, Tafelspitzsülze mit Schnittlauchsauce, erkaltete Bratenstücke, Ziegenkäse mit Quittengelee und derlei köstliche Vulgaritäten.
Den Brauch an stivollem Essen im Freien gab es schon in der Antike
Im 19. Jahrhundert glich ein Picknick der englischen Oberschicht einem feudalen Essen. Wie Mrs. Beeton in ihrem 1861 erschienenen “Book of Household Management“ beispielsweise vorschlägt, hatte ein Picknick mindestens aus sechs Stück Hummer, zwei Enten, Lammschultern, Tauben-Pasteten, einigen Kalbsköpfen in Aspik, Roastbeef, Salaten und ähnlichen Delikatessen zu bestehen. Pasteten, Sandwiches und der unvermeidliche Pudding sind heute noch unverzichtbare Ingredienzien eines britischen Picknickers.
Der Brauch, draußen im Freien ein Tuch auszubreiten und sich an mitgebrachten Näschereien zu delektieren, entstand bereits in der Antike. Die Griechen nannten das Essen im Grünen „Eranos“, die Römer wiederum „Prantium“. Beliebt war das Picknicken in der Zeit des Minnesangs, und in der Renaissance galt das Speisen inmitten ländlichen Idylls als große Mode. Der Adel spielte Schäfer und Schäferin, man vergnügte sich auf Wiesen und Waldhainen, selbstverständlich rundum versorgt von der Dienerschaft mit Körben voll Obst, Fleisch, Brot und Wein.
Leidenschaftlich dem Picknick zugetan war Maximilian II. von Bayern (1811–1864). In seiner Zeit war das Essen im Freien ein beliebter Zeitvertreib des Adels und des reichen Bürgertums. Wenn der König “sur l’herbe“ irgendwo in der Landschaft speisen wollte, glichen Vorbereitung und Durchführung einem Staatsakt. Leibkoch war der berühmte Johann Rottenhöfer, und der kochte dann in irgendeiner nahen Bauernküche neben Suppe und Forelle dreierlei Fisch, zwei Desserts, Früchte und Konfekt, wozu es Champagner gab und hinterher eine feine Havanna-Zigarre. Gegessen wurde von silbernen Tellern, getrunken aus silbernen Reisebechern.
Ohne Korb und Wein geht es nicht
Ob das Picknick nun als legere, heiter improvisierte Mahlzeit auf der Wiese angelegt oder penibel als gastronomische Inszenierung unter offenem Horizont geplant wird: Ohne Korb geht nichts, will man stilvoll sein. Die Bandbreite ist groß, sie reicht von Plastikware “made in China“ (für ca. 35 Euro) bis zum luxuriösen Lunch-Case von Louis Vuitton, bestückt mit Porzellan und Silber und um die 5 000 Euro teuer. Im Fachhandel sind Weidenkörbe, gefüllt mit Geschirr, Gläsern, Servietten, Besteck und Windlichtern, für zwei bis sechs Personen zu Preisen zwischen 100 und 2 500 Euro zu bekommen. Unerlässlich ist die Decke, auf der man sitzt und die gleichzeitig als Tischtuch dient. Robust muss sie sein, möglichst aus Wolle und sinnvollerweise mit gummierter Unterseite zum Schutz vor Feuchtigkeit.
Wein darf natürlich nicht fehlen. Passend ist ein herzhaftes Gewächs, ein Wein, zu dem man nicht Sie sagt, sondern der als Duzbruder bei sich willkommen geheißen wird. Das kann ein Riesling sein, ein Sauvignon blanc, Grüner Veltliner, auch ein Rosé oder Silvaner. Überhaupt nichts ist gegen Champagner einzuwenden. Wichtig ist nur, dass die Gläser nicht leer bleiben. Das würde nämlich auch bei einem Picknick, wo Kultur gewissermaßen auf Natur trifft, den Sinn des Ästheten für Vollkommenheit verletzen.
Wenn sich die Gefühle wohlig dehnen, weißt Du: Man sitzt und genießt sozusagen näher bei den Engeln, die, weil der liebe Gott gerade nicht zuhört, Mozart anstelle von Bach spielen.