Liebe SAVOIR-VIVRE-Genießer,
seit vielen Jahren schreibe und kommentiere ich rund um das Thema „Essen und Genuss“, sei es auf der Bühne, sei es an der Hochschule oder in meinen Kochbüchern und Artikeln – immer wieder beleuchte ich dabei die Rolle, die Deutschlands Köche spielen. Und ja, natürlich spare ich nicht an Kritik, wenn mir Entwicklungen auf hiesigen Tellern missfallen. Sicherlich wird auch manch einer der tapferen Herdkrieger unserer Republik den ein oder anderen Seitenhieb, den ich vom Schreibtisch aus dann mal wieder ausgeteilt habe, persönlich nehmen. Ja, der Sudhoff, der hat gut reden, sitzt mit einem Glas Wein gemütlich vor seinem PC und meckert, während die Köche jeden Tag den Kampf an der Front aufnehmen. Dann nölt er wieder rum über Tellersymmetrie, während im richtigen Leben in der Restaurantküche ein Koch gerade verzweifelt, weil ein Teller wegen Sellerieunverträglichkeit oder Nussallergie (oder noch besser: beides!) komplett – und zwar sofort! – neu gemacht werden muss („oops, haben wir total vergessen Ihnen zu sagen!“). Oder weil wieder die Eltern, die trotz Ehekrise mit der ganzen Familie heute Abend genau dort essen gehen müssen und vor lauter schlechter Stimmung vergessen haben, dass ihr Junge absolut keine Schalentiere verträgt – der jetzt röchelnd zusammenbricht. Aha, da fährt schon das Blaulicht an der Küche vorbei, der Koch hat aber keine Zeit, die Situation zu begleiten, weil soeben der 8er-Tisch das Menü modifizieren möchte – jeder individuell, logisch, weil der eine „keine Maronen mag“, der nächste sich „gerade lactosefrei ernährt“, während die Frau mit der extremen adipösen Vorhut als Bauch daneben „abends keine Kohlenhydrate mehr essen will“, während das klapperdürre Frollein Rottenmeier gegenüber sich sicher ist, dass „Gluten ihre Darmflora zerstört hat, ganz klar!“ – dabei weiß der Koch beim ersten Blick auf ihr starrsinnsfaltiges Gesicht sofort, dass in Wirklichkeit Moralinsäure diese Frau von innen seit vielen Jahren zerfrisst! Während also der Sudhoff fernab jeder Küchenrealität über Sous-vide-Methode und Gar-Grade daherschmonzettelt, kommen die Teller vom Tisch mit den Gymnasialpädagogen zurück, die wollten schließlich ihr „Rinderfilet durch! Durch hatten wir gesagt, ausdrücklich! Herrgott, das ist doch nicht so schwer zu verstehen oder hören Sie nicht zu, wenn ein Kunde mal einen Wunsch äußert?!?“. Der Seniorentisch daneben beschwert sich im gleichen Moment beim Personal, dass er schon seit 8 Minuten auf den nächsten Gang wartet – gut, hier hat der Koch Verständnis, die sind wirklich schon sehr alt, da zählt jede verbleibende Minute.
Seitenwechsel an die Front
Ja, ich habe volles Verständnis, wenn Köche sich darum über die schreibende Zunft mokieren. Nun habe ich im Zuge meiner Koch-Shows trotz der Berufsbezeichnung „Musiker und Kabarettist“ dann doch schon etliche Küchen von innen gesehen und dort zusammen mit der Küchencrew den Kochlöffel geschwungen, aber das hat tatsächlich nichts zu tun mit dem, was ein Koch in einem Gourmetrestaurant erlebt. Ich ahnte das bis vor kurzem, und seit zwei Monaten weiß ich es definitiv. Denn, liebe Köche – ich darf Euch von nun an Kollegen nennen. Und das ist mir eine große Ehre. Tatsächlich bin ich dank einiger Umstände, die man wohl als „ziemlich crazy“ bezeichnen könnte, dem großen Mut und der Innovationskraft des Betreiber-Ehepaares Alexander und Susanne Breitung und der Unterstützung des Sterne-Kollegen René Kalobius plötzlich an seiner Seite zweiter Küchenchef in einem außergewöhnlichen Haus geworden – der Surenburg. Wahrlich nicht irgendein Haus, sondern ein Haus mit einer magischen Atmosphäre und einem Michelin-Stern. Zack! Von einem Moment auf den anderen stehe ich jetzt auch an der Front. Und schwitze mit meinen Kollegen in der Küche, wenn die Entenhaut nach Sous-vide-Garen sich nicht vernünftig parieren lässt. Wenn das Möhrengrünpestozu sauer scheint oder die Rotkohlessenz aus dem Rotationsverdampfer irgendwas Seifiges hat.
Wissenschaft greift nach den Sternen
Die Rezepte werden zusammen mit dem food lab muenster entwickelt. Denn das ist der einzigartige Ansatz der Surenburg im Norden Westfalens, den in Deutschland auf diese Weise bisher noch keine Küche gewagt hat: Wir nutzen direkt die akademische Expertise, um Fragen, die bei der Rezeptentwicklung entstehen, dort zu beantworten. Mit Köpfchen statt Rumprobieren. Studenten testen dann, ob die Idee umsetzbar ist, z.B. bei welcher Sous-vide-Temperatur und ‑Dauer der Spargel optimal gart, welches Fett die richtige Konsistenz in der Paté ergibt oder ob der seifige Geschmack der Essenz aufgrund des Ph-Wertes sich durch Zugabe von Säure verbessert. Gleichzeitig bekommt Nachhaltigkeit ein ganz neues Gewicht, Stichwort Nose to tail, Speisereste-Reduktion, alte Sorten und biologische Produkte – denn auch das gehört zu unseren Schwerpunkten im food lab muenster.
Vom Elfenbeinturm an den Herd. Und schon nach wenigen Tagen verneige ich mich tief vor den Menschen, die jahrelang täglich beruflich etliche Stunden am Herd verbringen, um es den Gästen recht zu machen. Manch – naja, sagen wir mal euphemistisch – „sonderlichen“ Wunsch zu erfüllen. Oder wieder einen freien Tag canceln, weil eine 20er Gruppe eines wichtigen Kunden sieben Gänge bestellt hat. Die Exaktheit, mit der das Uhrwerk Küche im Sternebereich tickt, hatte ich mir so vorgestellt, jetzt erlebe ich es live und in Farbe. Ich würde jedem Food-Journalisten empfehlen, wenigstens einmal im Leben ein vierwöchiges Praktikum in solch einer Küche zu machen. Nur um zu verstehen, was es bedeutet, am Pass viele Handgriffe korrekt, ästhetisch und schnell auszuführen, damit die Teller warm am Tisch ankommen und jeder dem nächsten gleicht. In der Küche ist es ein Tanz auf dem Vulkan, immer kann etwas schiefgehen, man muss zig Dinge gleichzeitig im Griff haben, die nachher auf dem Teller vereinigt plötzlich ein gustatorisch-olfaktorisch-optisches Kunstwerk ergeben. Das bedeutet höchste Konzentration, Wille zur Perfektion und – vor allem – sehr sehr viel Arbeit.
Wertschätzung und Wertschöpfung
Und darum möchte ich mich heute mal denjenigen widmen, die viel zu selten in den kritischen Fokus der Food-Journalisten geraten. Nämlich den Kunden. Dem Gast im feinen Gourmet-Haus. Wir sprechen immer öfter von der Wertschätzung von Lebensmitteln. Doch wenn es ans Zahlen geht, dann ist es mit der Wertschätzung schnell vorbei. Gäste, die mit einem Auto vorfahren, von dem sich andere eine Eigentumswohnung kaufen würden, klagen darüber, dass das 7‑Gang-Menü „sooo teuer ist“. Da werden Gustationskunstwerke von Geschäftsleuten sinnlos in sich hineingestopft, ohne eine Sekunde hinzuschmecken. Die Erwartungshaltung vieler Kunden steht in einem krassen Missverhältnis zu der Bereitschaft, die Arbeit, die Kunstfertigkeit und die Qualität der Rohstoffe wertzuschätzen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und darum möchte ich Euch, den Genießern und SAVOIR-VIVRE-Lesern heute aus der Küche zurufen: Schmeckt hin, nutzt Eure Sinne, zollt Anerkennung und genießt! Und seid bereit, diesen Wert auch zu bezahlen! Ein Blick ins Nachbarland Frankreich hilft – etwa ein Viertel mehr gibt man dort für Essen und für Besuche in feinen Restaurants aus – und ich habe noch nie einen Franzosen im Restaurant über Preise diskutieren gehört …
In diesem Sinne: bon appétit wünscht Euch
Euer Tobias Sudhoff