Liebe SAVOIR-VIVRE-Genießer,
lange Zeit galt Deutschland weltweit als kulinarische Einöde. Und das im internationalen Vergleich völlig zu Recht. Meine gastronomische Jugend bestand aus Fleischbergen, die auf dem Teller die Physiognomie Helmut Kohls widerspiegelten, dazu zerkochtes Beilagen-Gemüse, das sich scheinbar selber in direkter Nachbarschaft zu dem fetttriefenden toten Tier unwohl fühlte und als Krönung – unter einem Stärkehäutchen warmgehalten – Knorr-dunkle-Saucen-Extrakt. Das Ganze schmeckte genauso, wie unsere Wohnzimmer damals aussahen … Von solchen Irrwegen der Gastronomie musste sich mein Gaumen erst mal viele Jahre erholen.
Doch wer in diesen Tagen durch dieses Land geht, findet ein ganz anderes Deutschland wieder. Food ist hier ein veritables Thema geworden. Menschen interessieren sich wieder für Essen und dessen Zubereitung. Davon zeugen nicht nur Magazine wie SAVOIR-VIVRE. Selbst an der Hochschule, an der ich die Zusammenhänge von Naturwissenschaften und Geschmack unterrichte, sitzen in meinen Seminaren immer weniger zukünftige Nestlé-Lebensmitteltechnologen als vielmehr geschmacksbegeisterte junge Menschen, die die Welt der Lebensmittel verändern und mitgestalten wollen. Handcraft, Regionalität, Authentizität und Nachhaltigkeit sind keine leeren Worthülsen mehr, sondern werden von Kreativen und herrlich Verrückten mit Inhalten gefüllt, die mitunter sehr schmackhaft sind.
Is(s) was?!
Dieses Qualitätsbewusstsein hat es sogar in die deutschen Küchen geschafft. Wer heute in einem bürgerlichen Restaurant essen geht, bekommt immer öfter ordentliche, handgemachte Gerichte serviert. Und wer – wozu immer mehr Menschen bereit sind – ein wenig mehr Geld ausgibt, der bekommt nicht selten richtig gutes Essen serviert. In der Spitzengastronomie ziert unser Land eine Vielzahl von Sternen an den Eingangsportalen mancher Gourmettempel. Deutschland hat eine Reihe wirklich innovativer Köche, die ihren eigenen Weg gehen und die uns mit großartigem Handwerk und spannender Kreativität schlichtweg glücklich machen können. Wer hätte denn gedacht, dass ausgerechnet im karnivorischen Deutschland einmal ein Stephan Hentschel im Cookies Cream CO2-neutral großes Kino liefern würde? Dass ein Harald Rüssel in seiner Küche konsequent nach Aspekten der Regionalität erfolgreich – und ausgesprochen lecker! – seinen Stern verteidigen könnte? Dass ein Steinheuer irgendwo in der Provinz derart unkonventionell große Gerichte zaubert? Oder gar ein René Frank mit dem CODA ein reines Dessert-Restaurant eröffnet, in dem auch der verwöhnte Gaumen nach etlichen Gängen nicht einen Moment das Gefühl hat, zu viel Süße und zu wenig Umami geschmeckt zu haben, sondern sich dort vielmehr eine völlig neuartige, geniale Geschmackswelt selbst dem geübten Schnabulierer auftut? Da sollte man doch eigentlich fragen: Is(s) was?
Und Dollase meckert …
Ja. Da is‘ was. Etwas, das mich bei vielen, vor allem jüngeren Köchen irgendwie stört. Ich habe nämlich ziemlich oft das Gefühl, dass da schon wieder so etwas wie der „deutsche Einheitsteller“ entsteht. Immer „total trendig“, je nachdem welche Sau gerade durch das Gastrodorf getrieben wird. Und das geht für mich leider oft einher mit dem Verlust dessen, wofür ich eigentlich essen gehe – nämlich ein feiner, durchdachter, gerne auch komplexer Geschmack. Da bekommen die Teller plötzlich Masern, dann wieder muss alles auf einer Seite – am liebsten auf erdfarbenem Untergrund – angerichtet werden (und die leere Hälfte des Tellers starrt mich vorwurfsvoll beim Essen an), dann muss aus allem krampfhaft noch ein Schäumchen, ein paar Crumbles und ein Sponge serviert werden – nur weil „Sponge doch gerade alle anderen auch machen“. Nein, liebe Freunde, ich will keinen labbrigen Artischocken-Sponge, auf dem ein furzgetrockneter Artischocken-Chip liegt. Nicht, wenn es gustatorisch schlicht keinen Sinn ergibt. Als Dollase vor kurzem seine Kritik an hiesigen Spitzen-Gastronomen äußerte (und dabei gewohnt Dollase-mäßig barock wenn nicht gar rokokoesk sich in seinen eigenen Wort-Wald begab …), da war das Erstaunen groß. Und viele meiner Gastro-Bekannten und Freunde wussten rein gar nichts damit anzufangen. Doch mich beschlich das Gefühl, dass er genau das gemeint haben könnte. Und in dem Fall gebe ich ihm recht.
Zwei Sterne für eine Zwiebel mit Hack – als Augenöffner
Ich war vor gar nicht langer Zeit in einem Sterne-Haus im Piemont. Und was bekam ich da serviert? Eine Ofenzwiebel gefüllt mit feinem Hack und Trüffelaromen. Bäm! Und was soll ich sagen? Es war derart unfassbar lecker, so subtil und ausgewogen in den Aromen, handwerklich perfekt – ich bekam Gänsehaut ob dieses scheinbar schlichten Gustationskunstwerkes. Das würde sich hier bei uns wohl kaum ein Sterne-Koch trauen. Und genau das war für mich ein Augenöffner (respektive Zungenöffner)!
So unmanieriert geht kochen. Klar, der gleiche Koch beherrscht auch Matcha-Kaviar und jede Espuma-Konsistenz. Das ist die handwerkliche Voraussetzung. Aber er muss es mir nicht unbedingt auf jedem Teller zeigen. Was hier bei uns ein Stück weit schiefläuft, kann man ganz wunderbar in der Facebookgruppe „Modern Cuisine“ sehen – da sind wahrlich genug große Talente darunter mit Riesenpotential. Aber die Teller bestehen zu guten Teilen aus genau jenem Einheits-Stil mit Blick auf handwerkliche Angeberei, der die gehobenen Restaurants aus meiner Sicht zu sehr prägt – und der Kreativität viel zu enge Grenzen setzt. Für mich als Musiker drängt sich der Vergleich auf: Die Teller sehen genau so aus, wie viele asiatische Musikstudenten klingen, wenn sie hier Klassik studieren – technisch brillant, aber völlig leblos. Und nicht wenige Küchenkollegen überschätzen sich dabei reichlich.
Was heißt das für die deutschen Köche? Ganz klar: Die deutsche Küche ist mittlerweile besser als ihr Ruf. Es verändert sich wirklich was auf deutschen Tellern, und es gibt viele auch junge, talentierte Köche, die auf der Suche sind nach Neuem, die als Kulinarien-Abenteurer auf permanenter Entdeckungsreise sind (und nicht selten entdeckt man dann auf der Suche nach Neuem so manches Alte wieder). Diese Kreativität ist spannend und macht Hunger auf mehr. Man möchte aber sehr vielen jungen Herdkriegern zurufen: Lernt zuallererst Schmecken, lernt im Sinne des Wortes, das wahrzunehmen, was ihr da nachher serviert, lernt erst einmal diese Alchimie des Gaumens, bevor ihr packojetverschnurbeltes schwarzes Knoblauch-Eis ans Makrelenespuma legt. Denn ansonsten wirkt es mehr gewollt als gekonnt. Deutschlands Köche sollten einfach mehr Mut haben und sich von Aromen und Gerüchen statt von tollen Bildern und neuen Trends leiten lassen – dann freue ich mich nämlich noch viel mehr auf das, was dieses Land kulinarisch zu bieten hat …
Guten Appetit wünscht den Savoir- Vivre-Lesern
Euer Tobias Sudhoff