„EIN GLAS UND DU BIST TOT “. Mythos Absinth: Von Wahnsinn und Wirklichkeit

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 5 Minuten

Um kaum eine andere Spiri­tuose ranken sich so viele Geschichten, Halbwahr­heiten und Mythen: Absinth. Was ist dran an den Gerüchten um seine geistes­zer­stö­rende Wirkung? Und warum zahlen Genießer horrende Summen für eine Flasche des histo­ri­schen Trunks? SAVOIR VIVRE hat sich auf die Spuren des Wermut-Getränks begeben, das die Menschen seit mehr als hundert Jahren faszi­niert. Und erst seit kurzem wieder legal ist.

Es ist der 23. Oktober 1888. Der junge Vincent van Gogh trifft bei seinem Künst­ler­kol­legen Paul Gauguin in Arles ein. Schon zwei Monate später endet das Zusam­men­leben mit einem bizarren Vorfall: Während eines Streits mit Gaugin zerschneidet van Gogh sein Ohr.  Am nächsten Tag findet man ihn bewusstlos und stark geschwächt im eigenem Blut liegend auf.

Ein Tag  im August 1905. Jean Lanfray, Weinberg­ar­beiter in der Waadt­länder Gemeinde Commugny, kehrt von der Arbeit nach Hause. Er schreit, er tobt, er zückt schluss­endlich die Waffe – und erschießt in seiner psycho­ti­schen Wut die zweijährige Tochter Blanche, seine vierjährige Tochter Rose, seine schwangere Frau und zu guter Letzt auch sich selbst.

Nun: Was war die Folge dieser und ähnlicher Vorfälle in Europa rund um die Wende zum 20. Jahrhundert? Und was haben sie ursächlich mitein­ander zu tun? Es gibt zwei Antworten. Eine damals, eine heute.

Todbrin­gender Absinthismus

An dem Tag, an dem Lanfray seine Familie ermordete, hatte er neben nahezu belang­losen sechs Litern Wein und Branntwein auch zwei beacht­liche Gläser Absinth zu sich genommen. Wer oder was war also Schuld an Lanfrays abscheu­lichem Verbrechen? Der Absinth natürlich. „Wie bitte“, fragen Sie? „Ja“, sagt Absinth­ex­perte Markus Lion, „Weinpro­du­zenten und Absinth­gegner tauften Lanfrays Sucht­krankheit, die sie für seinen Wahnsinn verant­wortlich machten, damals auf den Namen „Absinthismus““.

Markus Lion ist ist Experte für histo­rische Absinthe.

Auf die Idee, dass der immense Alkohol­konsum insgesamt zu darge­bo­tener sozialer Verrottung führte, konnte eine Gesell­schaft, die Wein für ein Grund­nah­rungs­mittel hielt und bis zu 30l reinen Alkohol pro Kopf im Jahr konsu­mierte, natürlich nicht kommen. Heute hingegen ist das tatsäch­liche Problem „Alkoho­lismus“ hinrei­chend bekannt. Und auch der Umstand, dass der für die Produktion von billigem Absinth verwendete Minder­al­kohol in Wahrheit zu anfangs beschrie­benen Wahnvor­stel­lungen führte.

Zu Beginn des 20. Jahrhun­derts jedoch hatte man eine andere Schuldige ausge­macht und sogleich aufs Schafott geführt: „Die grüne Fee, wie man den Absinth in Liebha­ber­kreisen auch getauft hatte. Und so durfte die Wermut-Spiri­tuose bis zu ihrer begin­nenden Rehabi­li­tierung im Jahre 1989 in vielen europäi­schen Ländern jahrzehn­telang nicht mehr produ­ziert werden.

Das Nervengift Thujon

Dennoch kursieren bis heute hartnä­ckige Gerüchte darüber, dass der im ätheri­schen Öl des Wermuts enthaltene Bestandteil Thujon Schuld an im „Fin de siècle“ häufig zu beobach­tenden Symptomen des geistigen und körper­lichen Verfalls gewesen sei. Und tatsächlich: Thujon ist ein Nervengift. Schlimmer:  In hoher Dosierung kann es Verwirrtheit und epilep­tische Krämpfe hervor­rufen. „Man könnte das Thujon-Öl im Absinth nie so hoch dosieren, als dass es tatsächlich eine berau­schende Wirkung  entfalten könnte“, klärt Lion jedoch auf „denn dann wäre das Getränk so bitter, dass man es gar nicht mehr genießen könnte“. Der Thujon-Anteil  im Absinth ist also in Wahrheit nahezu homöo­pa­thisch gering.

„EIN GLAS UND DU BIST TOD“

Dennoch umweht die Spiri­tuose bis heute der Reiz des Verbo­tenen: Ihre jahrzehn­te­lange  Prohi­bition, ihre toxische Farbe und das fragwürdige Versprechen vielleicht doch ein wenig rauschhaft zu wirken. Kein Wunder also, dass sich auch gegen­wärtig noch Subkul­turen wie die Gothik­szene oder Canna­bis­lieb­haber häufig vom Mythos Absinth angezogen fühlen. „Hätte man Gin und Vermouth anstatt des Absinth verboten, dann würden Sammler heute ein Vermögen für alte, konische Gläser zahlen und ehrfurchtsvoll Dorothy Parker und Dashiell Hammett über die narko­ti­schen Quali­täten des berüch­tigten Martinis zitieren,“ schrieb einmal der Autor Taras Grescoe in seinem Essay „Schweizer Absinthe – Ein Glas und du bist Tod“, über die zweifel­hafte Mysti­fi­zierung der Wermut-Spiri­tuose.

Das Getränk der Dichter und Denker

„Ich ziehe meinen Kunden regel­mäßig die Zähne“, sagt Lion, der über seine Firma „Lion Spirits“  hochwertige Absinthe vertreibt. „Ich kann und will nicht auf den Zug der Marihua­na­zu­behör verkau­fenden Headshops aufspringen“, so der Importeur weiter. Denn der Mittvier­ziger ist nicht etwa faszi­niert von der Idee einer pflanz­lichen Möchtegern-Droge. Denn: Die Wermut-Spiri­tuose war nicht nur dieser Teufel­s­trank, der für Blut und Blödsinn verant­wortlich zeichnen sollte. Er war auch mehr als das bloße „Opium des Volkes“, das noch viel günstiger als Wein war und somit auch  dem Prole­tariat den allabend­lichen Barbesuch ermög­lichte. Nein: Absinth, das war auch das Lifesty­le­ge­tränk der Künst­ler­elite.

Eine Herren­runde von Absinth­trinkern um 1910.

Der Bohème, die ihre Inspi­ration für Kunst und Literatur in Rausch und Anrüchigem suchte. „Mit Anfang 20 hatte ich ein Faible für die Franzö­sische Literatur des 19. Jahrhun­derts“, sagt Lion, „dort  stolpert man allent­halben über die Grüne Fee“. Lion las von den Damen und Dandys der Metro­polen, die sich allabendlich zur „grünen Stunde“ trafen. So nannte man das als chic geltende Absinth­ge­nießen zwischen 17 und 19 Uhr in den angesagten Bars und Cafes der Stadt. Fans dieser Stunden des Trinkens und Tratschens waren auch die großen Denker der Zeit: Charles Baude­laire, Ernest Hemingway, Edgar Allan Poe, Oscar Wilde und eben auch Künstler wie Paul Gauguin und Vincent van Gogh.

Zu seinem Ruf als zeitge­mäßes Getränk der späten Nachmit­tags­stunden trugen auch die zahlreichen Trink­ri­tuale bei. Auf den Tischen der Bars und Cafés der Pariser Boule­vards standen häufig hohe Wasser­be­hälter mit mehreren Hähnen. Ein Absinth­trinker platzierte einen der spatel­för­migen und gelochten oder geschlitzten Absinth­löffel auf sein Glas und legte darauf ein Stück Zucker. Dann drehte er einen der Hähne des Wasser­be­hälters auf, wodurch mit etwa einem Tropfen pro Sekunde Wasser auf den Löffel herab­tropfte. Jeder Tropfen gezuckerten Wassers, der in das darunter stehende Absinthglas fiel, hinterließ im Absinth eine milchige Spur, bis schließlich ein Mischungs­ver­hältnis erreicht war, das dem Getränk insgesamt eine milchig-grünliche Färbung verlieh.

Marke­ting­träch­tiges Trink­ritual: Aus den Hähnen dieses Wasser­be­hälters tropft etwa ein Tropfen Wasser pro Sekunde auf den Zucker­würfel über dem Absinthglas.

„Ich suche die Leute, die schon 50 Flaschen Whisky im Keller haben“, sagt Lion über seine Zielgruppe, „Genießer, die Interesse an der Historie und Kultur rund um die Wermut-Spiri­tuose haben“. Und so erklärt sich auch der Preis einer guten Flasche, die es ab 50 Euro aufwärts zu erwerben gilt. Permanent ist der Spiri­tuo­sen­händler auf der Suche nach Orignal­re­zep­turen hochwer­tiger histo­ri­scher Absinthe aus dem 19. Jahrhundert, die er brennen lässt und vermarktet.

„Ich trinke das, was einst van Gogh getrunken hat“, sollen seine Kunden dann sagen können. Bleibt nur diese Sache mit dem zerstüm­melten Ohr… „Nein“, sagt Lion, „da wünsche ich mir dann lieber doch keine Wieder­holung“.

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