Die Berliner Craft-Beer-Szene boomt. Nach und nach schießen in den Kiezen der Hauptstadt neue Bier-Stores und Brauereien aus dem Boden. Nur ein Großstadt-Hype oder eine echte Bewegung? Wir haben uns auf die Spuren der neuen Berliner Braukunst begeben.
Berlin leistet hier wichtige Pionierarbeit“, betont Hendrik Sell. Während er spricht, sortiert er feine Biersorten in die Regale seines Ladens, dem Beer:eau @Berlin Beer Academy. Manche von ihnen kosten über 30 Euro. „Craft Beer hat einen Stellenwert von gutem Wein“, erklärt Hendrik. „Da steckt viel Arbeit, Liebe und Handwerk drin, und unsere Kundschaft weiß das.“ Der Laden an der Flaniermeile Friedrichstraße ist eine Institution unter den Berliner Bier-Stores. Lange vor dem Hype eröffnete die Bier-Sommelière Sylvia Kopp gemeinsam mit Olav Vier Strawe den Showroom, in dem anfangs ausschließlich geführte Bierverkostungen stattfanden. Seit Februar ist Hendrik mit im Team und machte aus dem schlicht eingerichteten Laden eine gemütliche Wallstätte für Bier-Liebhaber – mitsamt Ausschank und einem stattlichen Sortiment aus aller Welt. Und aus Berlin, versteht sich.
„Viele unserer Kunden sind Touristen, die die Berliner Biervielfalt kennenlernen möchten. Sei es bei unseren Tastings oder an einem regulären Barabend“, so Hendrik. Eine dieser besonderen Bierspezialitäten ist die Berliner Schneeeule namens Marlene. Hinter der kleinen Brauerei steht Brauerin Ulrike Genz. Seit 2016 arbeitet die Gründerin der Schneeeule-Brauerei am Revival der Berliner Weiße. Damit ist nicht das bunte Sirup-Gemisch gemeint, sondern jenes originale Sauerbier, das selbst Napoleon liebte und es „Champagner des Nordens“ taufte. „Berliner Weiße war einst ein wichtiger Bestandteil des Berliner Lebens und des Alltags und ich würde mich freuen, wenn das auch irgendwann wieder so wird“, so die Brauerin. Um so nahe wie möglich an die Original-Rezeptur zu kommen, verwendet Ulrike Genz so genannte Brettanomyces-Hefen und setzt auf Flaschengärung. Denn ihr Ziel ist ein höheres: „Es geht mir nicht nur um das Bier an sich, sondern auch um die Berliner-Weiße-Kultur. Dass das Bier aus einem anständigen Pokal getrunken wird, ist mir genauso wichtig wie die Verwendung der alten Hefen.“ Und das kommt gut an: Bis zum heutigen Tage wurden bereits 80 Hektoliter Weiße per Hand abgefüllt, verkorkt und etikettiert.
»Unser Antrieb war und ist die Liebe zum Produkt«
Doch warum entstehen seit einigen Jahren so viele Brauereien in Berlin? „Berlin ist in Deutschland die Stadt mit dem größten internationalen Publikum“, erklärt Hendrik. „Die Weltoffenheit der Menschen, die hier leben, ist eine treibende Kraft. Man freut sich über neu interpretiertes, traditionelles ebenso wie über neue Dinge. Doch neben den jungen, aufstrebenden Brauern gibt es in Berlin auch eine Reihe von etablierten Brauereien, die seit vielen Jahren sehr erfolgreich Craft Beer brauen – lange, bevor es so genannt wurde“, betont Hendrik.
Eine davon ist die Privatbrauerei Lemke. „Wir haben bereits 1999 angefangen“, erzählt Rochus Hubertus Amerongen von der Privatbrauerei Lemke. „Allerdings waren die deutschen Konsumenten zum damaligen Zeitpunkt für Craft Beer noch nicht offen und wir konzentrierten uns auf ‚normale‘ Biersorten.“ Das habe sich mittlerweile geändert: Und so laufen heute unter dem Namen Lemke drei Gasthaus-Brauereien mitsamt Biergarten in der Hauptstadt. Für das Imperial Stout wurde Oliver Lemke vergangenes Jahr sogar mit einem der weltweit wichtigsten Bierpreise ausgezeichnet. Trotz des Erfolges hat sich das Credo des Teams aber nicht geändert, betont Amerongen: „Unser Antrieb war und ist die Liebe zum Produkt, die Freude an der Entwicklung neuer Biere mit hoher Drinkability und der tolle Geschmack als wesentliche Prämisse beim Brauen.“
Als ernstzunehmende Konkurrenten zu großen Brauereien stuft Amerongen die Kreativbrauer Berlins allerdings nicht ein: „Craft Beer wird, anders als in Ländern mit einer geringen Anzahl an Brauereien, in Deutschland ein übersichtliches Marktsegment bleiben. Wir gehen mittelfristig von einem Marktanteil von 5 %–7 % aus“, so der Biersommelier. Dennoch handele es sich um einen kurzfristigen Trend: „Mit dem Aufkommen des Craft Beers ist Bier wieder interessant, die Vielfalt überzeugt auch junge Menschen und Bier wird wieder als modernes, internationales, junges und attraktives Produkt wahrgenommen.“
Rock›n›Roll statt Fahrstuhlmusik
Ihren vorzeitigen Zenit erreichte die Bewegung im Jahr 2016: Stone Brewing, die zehntgrößte Craft Brewery der USA, eröffnete am Rande der Hauptstadt eine eigene Brauerei mitsamt großem Restaurant und Biergarten. Hier braut Stone nun für den deutschen und europäischen Markt. Ein 25-Millionen-Dollar-Projekt, bei dem ein altes Gaswerk in Berlin-Mariendorf umgebaut wurde. Im 115 Jahren alten, 2400 Quadratmeter großen Gebäude und in den angrenzenden Gärten finden 1200 Gäste Platz, es sind aber auch intimere Räume wie die „Library Bar“ und ein separater Veranstaltungssaal eingeplant. Weit entfernt von einem Münchner Hofbräuhaus. Aber genau darum geht es der Berliner Craft Beer Kultur eben. Statt das gängige Einerlei zu bedienen, macht man hier eben alles anders. Oder anders gesagt: Wenn die normale Bierszene Fahrstuhlmusik ist, ist die Berliner Craft-Beer-Szene Rock›n›Roll.
Friederike Hintze, Angelika Moeller
Bezugsquellen und Brauereien
Berlin Beer Academy GBR
Claire-Waldoff-Straße 4, 10117 Berlin
(Öffnungszeiten: dienstags bis samstags, 14 bis 24 Uhr. Sonntags 14 bis 19:30 Uhr. Montags geschlossen.)
Schneeeule Berlin
Edinburger Straße 59, 13349 Berlin,
Tel: 0176/23229335
www.facebook.com/schneeeule.berlin
Brauerei Lemke Berlin GmbH
Dircksenstraße, S‑Bahnbogen 143
10178 Berlin-Mitte, www.lemke.berlin
Stone Brewing
Bistro und Garten
Im Marienpark 23, 12107 Berlin
Braukurse in Berlin
Brauerei Flessa
Petersburger Str. 39 (1. Hinterhof)
10249 Berlin, Tel. 030–23470831
info@brauerei-flessa.de
Brauhaus in Spandau
BIS GmbH, Neuendorfer Straße 1
13585 Berlin, Tel. 030–353907‑0
info@brauhaus-spandau.de
Brauhaus Südstern
Hasenheide 69, 10967 Berlin
Tel. 030–69001624
www.brauhaus-suedstern.de