Die Sehnsucht beginnt im Kopf und gleich darauf verlangt der ganze Körper nach einer eisig-süßen Nascherei. Wie gut, dass die Kunst der gefrorenen Desserts international in hoher Blüte steht. Da gibt es Eisbomben, Mousses, Baisers, Parfaits, Sorbets, Eisaufläufe sowie Omelettes und Knödel, die warm serviert werden, deren Inneres jedoch wundersam aus Eis besteht.
Heiß und kalt, das ergibt eine kulinarische Spannung von hoher Delikatesse. Doch die populärste Form der kalten Erfrischung ist das Fruchteis – und zugleich die sozusagen schlüpfrigste Variante, sensationell inszeniert à la Marie-Antoinette im Pariser „Le Procope«, wo die Königin von Frankreich im 18. Jahrhundert die Eisstangen nicht mit dem Löffel naschte, sondern direkt mit der Zunge abschleckte und damit die Männer in Aufregung versetzte.

Anno dazumal in einem Pariser Eis-Café
Was heute Kinder und Erwachsene in seltener Eintracht und mit fröhlicher Unschuld verzehren – jährlich mehr als acht Liter! – , liest sich im Lexikon für „Lebensmittel und Ernährung« des Dr. Oetker wie ein schweres Drama. Das Speiseeis: „Zubereitung aus Flüssigkeit (z. B. Milch, Sahne, Wasser), Zucker, geschmackgebenden Stoffen (Kakao, Obst oder Obsterzeugnisse, natürliche oder künstliche Geschmacksstoffe) und Bindemitteln, durch Gefrieren zubereitet und zum Verzehr in gefrorenem Zustand bestimmt. Charakteristisch ist die Auflockerung durch während des Gefriervorgangs unterschlagene Luft (bei Rahmeis schon vor dem Gefrieren), an deren Stelle auch Stickstoff treten kann. Die feinen Gasbläschen bestimmen mit das angenehme Mundgefühl beim Verzehr des Eises; infolge ihrer schlechten Wärmeleitfähigkeit wirken sie einer zu starken örtlichen Unterkühlung des Mundes oder der Zähne entgegen.« Aha!
Das klingt nicht gerade nach hoher kulinarischer Literatur und animiert nicht zwingend zum Gang in den nächsten Eissalon, aber es ist ungemein informativ. Nun weiß der Eisschlecker, was ihn immer schon beschäftigte: die unterschlagene Luft ist es, die einer Vereisung seiner Zunge entgegen wirkt.
Giorgio Ballabeni (www.ballabeni.de),
der berühmte Gelatiere an Münchens Theresienstraße, kennt neben Fingerspitzengefühl, wachem Interesse an neuen Aromen, mehreren Zuckersorten sowie Honig („Süßes Eis ist ein Fehler«) freilich noch weitere Geheimnisse: „Man muß den Moment erwischen, an dem das Eis die richtige Konsistenz hat. Im Kessel der Eismaschine gefriert es an den Wänden zu einer Kruste, dann langsam in der Mitte. Wenn es unten am Schaber hängt wie eine lodernde Flamme, wir sagen ‚la fiamma‹, dann ist es richtig, muß man es schnell rausnehmen, schockfrosten auf minus 14 Grad und ab in die Vitrine – sonst wird es hart wie Beton.«
Ballabeni ist einer jener tausend Eismacher, die jedes Frühjahr über die Alpen nach Norden ziehen, um die Deutschen mit neuen Kreationen zu beglücken. In dieser Saison geht es besonders bunt und exotisch her, die Gelatieri wenden sich zunehmend auch herzhaften Produkten zu, an denen sie ihre Kunst erproben. Es gibt Gefrorenes aus Gemüse und Gewürzen, sogar aus Scampi und Weißwurst. Gelatieri rühren kühn Frostiges aus Pilzen, Zwiebel sowie Knoblauch, aus Tomaten, Artischocken, Fenchel und Sellerie, Chili, Ingwer, Apfelwein und Bier. Sie kombinieren Ananas mit Petersilie, Honig mit Mohn, Schokolade mit Kürbis. Bereits zum Klassiker avancierte das 1997 von Sergio Dondoli in dessen winziger Eisdiele in San Gimignano entworfene Eis aus Safran mit Vanille und Orangenschale. Der Mann setze noch eins drauf und entzückt seine Kundschaft mit einer gefrosteten Gänseleber.
Es lebe die Phantasie, sagte sich auch Luca Landi, Chefkoch im Green Park Resort im toskanischen Tirrena, als er Krabbenschwänze in ein cremiges Sorbet verwandelte, das nach Krabben schmeckt, aber auf der Zunge schmilzt wie Eis. Auch geräucherten Fisch hat er schon zu handlichen Kugeln verarbeitet, und verblüfft Gäste mit rosafarbenem Schinkeneis, serviert mit Feigen als Vorspeise. „Bevor ich Gemüse zu Eis verarbeite«, sagt Adriano Mesa, der hochdekorierte Koch aus dem Piemont, „erforsche ich sorgfältig seine Geschmacksstruktur.« Sein Denkprozeß gebar die Erkenntnis, dass Tomaten, Erbsen und Karotten eine süße Note haben, die sich in einem Sorbet bestens entfaltet.
Heinz Beck,
vom Micheln mit drei Sternen geadelter Deutscher im Restaurant „La Pergola« hoch über Rom, bereitet Parfaits aus Blauschimmelkäse, ob Gorgonzola oder Taleggio und erkärt dazu: „Der Gaumen wird herunter gekühlt, die Blutzirkulation angeregt, die Verdauung bleibt in Gang.« Zu seinen eiskalten, international applaudierten Schöpfungen gehören ein Tomaten-Risotto mit Basilikum-Ricotta-Eis, eine Eiscreme aus schwarzen Trüffeln sowie – als pikante, leicht süßliche Vorspeise – ein Paprika-Sorbet. Das wird, wie in einem Gourmet-Tempel nicht anders zu erwarten, nicht im Hörnchen, sondern auf dem Teller serviert. Das freut auch einen Eiskünstler wie Giorgio Ballabeni, der meint, mit Löffel könne man besser genießen und deshalb sein Eis nur im Waffelbecher verkauft: „Wenn du schleckst, merkst du nicht, was du ißt, weil du es nicht sehen kannst.«
Alfred Walterspiel,
der große deutsche Koch (1881–1960) schwärmt in seinem Buch „Meine Kunst in Küche und Restaurant« bereits von einem Sellerieeis: „Es schmeckt als Créme-Eis mit dem Zusatz von gekochtem Selleriepüree ganz ausgezeichnet.« Darauf muß man erst einmal kommen, aber bitte, geradezu eine Legende ist das Gefrorene von Pumpernickel, an dem sich bereits Goethe delektierte: ein viertel Pfund geriebener Pumpernickel wird mit einem halben Liter gesüßter und mit Vanille aromatisierter Schlagsahne vermischt, mit etwas Maraschino beträufelt, in eine Form gefüllt und in die Tiefkühltruhe gestellt, bis die Masse gefroren ist (im 18. Jahrhundert diente der Eiskeller als Vereisungsraum). Dann die Form stürzen, das Eis dicht mit Kakao – oder geriebener Edelbitterschokolade von mindestens 70 Prozent Kakao-Anteil – bestreuen und mit rotem Fruchtgelee garnieren.
Tim Raue,
der radikale Küchenreformer aus Berlin, hat sich an ein Seeigeleis gewagt. Und natürlich mischte auch
René Redzepi,
der Dreisternekoch aus dem ehemaligen „Noma« in Kopenhagen, mit und präsentierte ein magentafarbenes Rote-Bete-Eis.
Mercer’s Dairy hat in New York ein Wein-Eis in vier unterschiedlichen Sorten präsentiert: aus Portwein, rotem Zinfandel mit Pfirsich, Chardonnay mit Erdbeeren sowie aus Riesling, nobel „Royal White Riesling genannt; jedes hat einen Alkoholgehalt von rund fünf Prozent. Wegen des hohen Alkoholgehaltes muß der Käufer älter als 21 Jahre sein und dies mit Ausweis bestätigen. Was die Amerikaner als Sensation verkaufen, war in Italien allerdings schon lange bekannt. Die Gelateria „Gelati di Vini« im sizilianischen Ragusa (im noblen Stadtviertel Ibla) bietet seit den 1990er-Jahren Wein-Eis an, und zwar in den Geschmacksrichtungen Brachetto d’Acqui, Moscato d’Asti und ein süßes Passito di Pantelleria. Tatsache ist, dass Mercer’s Dairy die ersten waren, die das Wein-Eis industriell produziert haben. Das italienische Eis ist alkoholarm und kann von Leckermäulern aller Altersstufen genossen werden.
Derlei Originalität läßt die gute alte Vanille nicht schamhaft erröten. Das Eis mit Vanillegeschmack thront neben Schokolade, Erdbeere und Nuß seit Jahrzehnten unangefochten ganz oben auf der Favoritenskala der Deutschen. Immerhin sollen es bundesweit an die 600 Sorten sein, die in Cafés, Restaurants und vor allem Eisdielen angeboten werden. Gefrorenes lässt sich ja dank der von Carl von Linde 1876 erfundenen „echten« Kältemaschine aus allem produzieren, was die Lebensmittelverordnung erlaubt, ergänzt durch natürliche Geschmacksstoffe und Fruchtessenzen oder künstliche Aromen und Farben nebst Bindemittel und der Technik, die Glace durch Luft aufzulockern; die feinen Bläschen fördern das angenehme Gefühl beim Verzehr.
Die Geschichte des Speiseeises
dürfte um die 5 000 Jahre alt sein, offen ist, wer erstmals wo Gefrorenes mit Fruchtgeschmack hergestellt hat. Eine These besagt, daß sich diese gastronomische Kulturtat im antiken Mittelmeerraum ereignet habe. Anderen Historikern gelten die Chinesen als Erfinder der kalten Erfrischung, die noch vor den Griechen Eisiges hergestellt haben sollen. Die Quellen sind dunkel, aber es heißt, daß die Mongolen und Chinesen schon vor Jahrtausenden tiefe Natureiskeller besaßen. Fest steht, daß in der Antike das Gefrorene aus festgestampftem, zum Teil weit hergeholtem Gipfelschnee zubereitet worden ist, gemixt mit süßem Wein oder mulsium (mit Honig vermischtem Most oder Wein) sowie Zimt, Veilchen, diversen aromatischen Gewürzen, passierten Früchten, Rosenwasser und anderen Essenzen. Das ergab jenes Halbgefrorene, das auch die Perser liebten und „Sherbet« nannten, woraus sich später das zumal in der gehobenen Gastronomie geschätzte Fruchtsorbet entwickelte.
Gefrorenes ist also keine Erfindung der Neuzeit. Das erste historische Dokument über Speiseeis stammt vom griechischen Dichter Simonides von Keos, der in einem Gedicht von 527 v. Chr. berichtet, daß als Höhepunkt eines üppigen Gastmahls fruchtiges Gefrorenes serviert worden sei. Den Rohstoff hat man naturgemäß nicht aus der Tiefkühltruhe geholt, sondern vom schneebedeckten Olymp. Alexander der Große, dessen Ruf als Feinschmecker dem des Feldherrn nicht nachstand, verzichtete selbst bei ausgedehnten Reisen nicht auf Eis. Soldaten mußten als Staffelläufer den Schnee von den Bergeshöhen herbei holen. Köche mischten ihn mit Fruchtsaft oder kühlten damit den Wein. Die alten Römer legten im Winter Erdgruben aus, in denen sie Natureis lagerten, das dann mit allerlei Gewürzen und Früchten vermengt wurde: delikates für die reiche Gesellschaft.
In Europa waren es vor allem die schleckermäuligen Italiener, die in der Renaissance das Speiseeis zunehmend verfeinerten und die süße Eiskultur begründeten. Als Caterina de Medici 1533, gerade 14 Jahre alt, mit dem gleichaltrigen Heinrich von Orléans verheiratet wurde und nach Paris zog, gehörte dem großen Gefolge auch ein Konditor namens Buentalenti an, der die Hochzeitsgesellschaft mit eisigen Desserts versorgte. Gute 150 Jahre später, im Jahre 1686, eröffnete Francesco Procopio dei Coltelli, ein gebürtiger Sizilianer und einer der Hofköche Ludwigs XIV., im Pariser Quartier Latin das – heute als Restaurant existierende – Café Procope, in dem neben Kaffee als Novum auch Speiseeis serviert wurde. Das war nicht gerade die Demokratisierung des Fruchteises – solche Näschereien waren immer noch ein Privileg der Reichen – , aber ein erster Schritt hin von der Exklusivität zum Volksgut und der Beginn einer leckeren Eiszeit, die bis heute andauert und andauert und…
Das Schlußwort hat der Lexigraph von Dr. Oetker: „Man unterscheidet sieben Speiseeissorten: 1) Kremeis; 2) Fruchteis; 3) Rahmeis; 4) Milchspeiseeis; 5) Eiskrem; 6) Einfacheiskrem; 7) Kunstspeiseeis.«