Eis: Genuß aus der Kälte seit antiker Zeit

Karl-F. Lietz

Lesedauer: 6 Minuten

 

Die Sehnsucht beginnt im Kopf und gleich darauf verlangt der ganze Körper nach einer eisig-süßen Nascherei. Wie gut, dass die Kunst der gefro­renen Desserts inter­na­tional in hoher Blüte steht. Da gibt es Eisbomben, Mousses, Baisers, Parfaits, Sorbets, Eisauf­läufe sowie Omelettes und Knödel, die warm serviert werden, deren Inneres jedoch wundersam aus Eis besteht.

Heiß und kalt, das ergibt eine kulina­rische Spannung von hoher Delika­tesse. Doch die populärste Form der kalten Erfri­schung ist das Fruchteis – und zugleich die sozusagen schlüpf­rigste Variante, sensa­tionell insze­niert à la Marie-Antoi­nette im Pariser „Le Procope«, wo die Königin von Frank­reich im 18. Jahrhundert die Eisstangen nicht mit dem Löffel naschte, sondern direkt mit der Zunge abschleckte und damit die Männer in Aufregung versetzte.

Anno dazumal in einem Pariser Eis-Café

Was heute Kinder und Erwachsene in seltener Eintracht und mit fröhlicher Unschuld verzehren – jährlich mehr als acht Liter! – , liest sich im Lexikon für „Lebens­mittel und Ernährung« des Dr. Oetker wie ein schweres Drama. Das Speiseeis: „Zubereitung aus Flüssigkeit (z. B. Milch, Sahne, Wasser), Zucker, geschmack­ge­benden Stoffen (Kakao, Obst oder Obster­zeug­nisse, natür­liche oder künst­liche Geschmacks­stoffe) und Binde­mitteln, durch Gefrieren zubereitet und zum Verzehr in gefro­renem Zustand bestimmt. Charak­te­ris­tisch ist die Auflo­ckerung durch während des Gefrier­vor­gangs unter­schlagene Luft (bei Rahmeis schon vor dem Gefrieren), an deren Stelle auch Stick­stoff treten kann. Die feinen Gasbläschen bestimmen mit das angenehme Mundgefühl beim Verzehr des Eises; infolge ihrer schlechten Wärme­leit­fä­higkeit wirken sie einer zu starken örtlichen Unter­kühlung des Mundes oder der Zähne entgegen.« Aha!

Das klingt nicht gerade nach hoher kulina­ri­scher Literatur und animiert nicht zwingend zum Gang in den nächsten Eissalon, aber es ist ungemein infor­mativ. Nun weiß der Eisschlecker, was ihn immer schon beschäf­tigte: die unter­schlagene Luft ist es, die einer Vereisung seiner Zunge entgegen wirkt.

Giorgio Ballabeni (www.ballabeni.de),

der berühmte Gelatiere an Münchens There­si­en­straße, kennt neben Finger­spit­zen­gefühl, wachem Interesse an neuen Aromen, mehreren Zucker­sorten sowie Honig („Süßes Eis ist ein Fehler«) freilich noch weitere Geheim­nisse: „Man muß den Moment erwischen, an dem das Eis die richtige Konsistenz hat. Im Kessel der Eisma­schine gefriert es an den Wänden zu einer Kruste, dann langsam in der Mitte. Wenn es unten am Schaber hängt wie eine lodernde Flamme, wir sagen ‚la fiamma‹, dann ist es richtig, muß man es schnell rausnehmen, schock­frosten auf minus 14 Grad und ab in die Vitrine – sonst wird es hart wie Beton.«

Ballabeni ist einer jener tausend Eismacher, die jedes Frühjahr über die Alpen nach Norden ziehen, um die Deutschen mit neuen Kreationen zu beglücken. In dieser Saison geht es besonders bunt und exotisch her, die Gelatieri wenden sich zunehmend auch herzhaften Produkten zu, an denen sie ihre Kunst erproben. Es gibt Gefro­renes aus Gemüse und Gewürzen, sogar aus Scampi und Weißwurst. Gelatieri rühren kühn Frostiges aus Pilzen, Zwiebel sowie Knoblauch, aus Tomaten, Artischocken, Fenchel und Sellerie, Chili, Ingwer, Apfelwein und Bier. Sie kombi­nieren Ananas mit Peter­silie, Honig mit Mohn, Schokolade mit Kürbis. Bereits zum Klassiker avancierte das 1997 von Sergio Dondoli in dessen winziger Eisdiele in San Gimignano entworfene Eis aus Safran mit Vanille und Orangen­schale. Der Mann setze noch eins drauf und entzückt seine Kundschaft mit einer gefros­teten Gänse­leber.

Es lebe die Phantasie, sagte sich auch Luca Landi, Chefkoch im Green Park Resort im toska­ni­schen Tirrena, als er Krabben­schwänze in ein cremiges Sorbet verwan­delte, das nach Krabben schmeckt, aber auf der Zunge schmilzt wie Eis. Auch geräu­cherten Fisch hat er schon zu handlichen Kugeln verar­beitet, und verblüfft Gäste mit rosafar­benem Schin­keneis, serviert mit Feigen als Vorspeise. „Bevor ich Gemüse zu Eis verar­beite«, sagt Adriano Mesa, der hochde­ko­rierte Koch aus dem Piemont, „erforsche ich sorgfältig seine Geschmacks­struktur.« Sein Denkprozeß gebar die Erkenntnis, dass Tomaten, Erbsen und Karotten eine süße Note haben, die sich in einem Sorbet bestens entfaltet.

Heinz Beck,

vom Micheln  mit drei Sternen geadelter Deutscher im Restaurant „La Pergola« hoch über Rom, bereitet Parfaits aus Blauschim­melkäse, ob Gorgonzola oder Taleggio und erkärt dazu: „Der Gaumen wird herunter gekühlt, die Blutzir­ku­lation angeregt, die Verdauung bleibt in Gang.« Zu seinen eiskalten, inter­na­tional applau­dierten Schöp­fungen gehören ein Tomaten-Risotto mit Basilikum-Ricotta-Eis, eine Eiscreme aus schwarzen Trüffeln sowie – als pikante, leicht süßliche Vorspeise – ein Paprika-Sorbet. Das wird, wie in einem Gourmet-Tempel nicht anders zu erwarten, nicht im Hörnchen, sondern auf dem Teller serviert. Das freut auch einen Eiskünstler wie Giorgio Ballabeni, der meint, mit Löffel könne man besser genießen und deshalb sein Eis nur im Waffel­becher verkauft: „Wenn du schleckst, merkst du nicht, was du ißt, weil du es nicht sehen kannst.«

Alfred Walter­spiel,

der große deutsche Koch (1881–1960) schwärmt in seinem Buch „Meine Kunst in Küche und Restaurant« bereits von einem Selle­rieeis: „Es schmeckt als Créme-Eis mit dem Zusatz von gekochtem Selle­rie­püree ganz ausge­zeichnet.« Darauf muß man erst einmal kommen, aber bitte, geradezu eine Legende ist das Gefrorene von Pumper­nickel, an dem sich bereits Goethe delek­tierte: ein viertel Pfund gerie­bener Pumper­nickel wird mit einem halben Liter gesüßter und mit Vanille aroma­ti­sierter Schlag­sahne vermischt, mit etwas Maraschino beträufelt, in eine Form gefüllt und in die Tiefkühl­truhe gestellt, bis die Masse gefroren ist (im 18. Jahrhundert diente der Eiskeller als Verei­sungsraum). Dann die Form stürzen, das Eis dicht mit Kakao – oder gerie­bener Edelbit­ter­scho­kolade von mindestens 70 Prozent Kakao-Anteil – bestreuen und mit rotem Frucht­gelee garnieren.

Tim Raue,

der radikale Küchen­re­former aus Berlin, hat sich an ein Seeigeleis gewagt. Und natürlich mischte auch

René Redzepi,

der Dreis­ter­nekoch aus dem ehema­ligen „Noma« in Kopen­hagen, mit und präsen­tierte ein magen­ta­far­benes Rote-Bete-Eis.

Mercer’s Dairy hat in New York ein Wein-Eis in vier unter­schied­lichen Sorten präsen­tiert: aus Portwein, rotem Zinfandel mit Pfirsich, Chardonnay mit Erdbeeren sowie aus Riesling, nobel „Royal White Riesling genannt; jedes hat einen Alkohol­gehalt von rund fünf Prozent. Wegen des hohen Alkohol­ge­haltes muß der Käufer älter als 21 Jahre sein und dies mit Ausweis bestä­tigen. Was die Ameri­kaner als Sensation verkaufen, war in Italien aller­dings schon lange bekannt. Die Gelateria „Gelati di Vini« im sizilia­ni­schen Ragusa (im noblen Stadt­viertel Ibla) bietet seit den 1990er-Jahren Wein-Eis an, und zwar in den Geschmacks­rich­tungen Brachetto d’Acqui, Moscato d’Asti und ein süßes Passito di Pantel­leria. Tatsache ist, dass Mercer’s Dairy die ersten waren, die das Wein-Eis indus­triell produ­ziert haben. Das italie­nische Eis ist alkoholarm und kann von Lecker­mäulern aller Alters­stufen genossen werden.

Derlei Origi­na­lität läßt die gute alte Vanille nicht schamhaft erröten. Das Eis mit Vanil­le­ge­schmack thront neben Schokolade, Erdbeere und Nuß seit Jahrzehnten unange­fochten ganz oben auf der Favori­ten­skala der Deutschen. Immerhin sollen es bundesweit an die 600 Sorten sein, die in Cafés, Restau­rants und vor allem Eisdielen angeboten werden. Gefro­renes lässt sich ja dank der von Carl von Linde 1876 erfun­denen „echten« Kälte­ma­schine aus allem produ­zieren, was die Lebens­mit­tel­ver­ordnung erlaubt, ergänzt durch natür­liche Geschmacks­stoffe und Frucht­es­senzen oder künst­liche Aromen und Farben nebst Binde­mittel und der Technik, die Glace durch Luft aufzu­lo­ckern; die feinen Bläschen fördern das angenehme Gefühl beim Verzehr.

Die Geschichte des Speise­eises

dürfte um die 5 000 Jahre alt sein, offen ist, wer erstmals wo Gefro­renes mit Frucht­ge­schmack herge­stellt hat. Eine These besagt, daß sich diese gastro­no­mische Kulturtat im antiken Mittel­meerraum ereignet habe. Anderen Histo­rikern gelten die Chinesen als Erfinder der kalten Erfri­schung, die noch vor den Griechen Eisiges herge­stellt haben sollen. Die Quellen sind dunkel, aber es heißt, daß die Mongolen und Chinesen schon vor Jahrtau­senden tiefe Natur­eis­keller besaßen. Fest steht, daß in der Antike das Gefrorene aus festge­stampftem, zum Teil weit herge­holtem Gipfel­schnee zubereitet worden ist, gemixt mit süßem Wein oder mulsium (mit Honig vermischtem Most oder Wein) sowie Zimt, Veilchen, diversen aroma­ti­schen Gewürzen, passierten Früchten, Rosen­wasser und anderen Essenzen. Das ergab jenes Halbge­frorene, das auch die Perser liebten und „Sherbet« nannten, woraus sich später das zumal in der gehobenen Gastro­nomie geschätzte Frucht­sorbet entwi­ckelte.

Gefro­renes ist also keine Erfindung der Neuzeit. Das erste histo­rische Dokument über Speiseeis stammt vom griechi­schen Dichter Simonides von Keos, der in einem Gedicht von 527 v. Chr. berichtet, daß als Höhepunkt eines üppigen Gastmahls fruch­tiges Gefro­renes serviert worden sei. Den Rohstoff hat man natur­gemäß nicht aus der Tiefkühl­truhe geholt, sondern vom schnee­be­deckten Olymp. Alexander der Große, dessen Ruf als Feinschmecker dem des Feldherrn nicht nachstand, verzichtete selbst bei ausge­dehnten Reisen nicht auf Eis. Soldaten mußten als Staffel­läufer den Schnee von den Berges­höhen herbei holen. Köche mischten ihn mit Fruchtsaft oder kühlten damit den Wein. Die alten Römer legten im Winter Erdgruben aus, in denen sie Natureis lagerten, das dann mit allerlei Gewürzen und Früchten vermengt wurde: delikates für die reiche Gesell­schaft.

In Europa waren es vor allem die schle­cker­mäu­ligen Italiener, die in der Renais­sance das Speiseeis zunehmend verfei­nerten und die süße Eiskultur begrün­deten. Als Caterina de Medici 1533, gerade 14 Jahre alt, mit dem gleich­alt­rigen Heinrich von Orléans verhei­ratet wurde und nach Paris zog, gehörte dem großen Gefolge auch ein Konditor namens Buenta­lenti an, der die Hochzeits­ge­sell­schaft mit eisigen Desserts versorgte. Gute 150 Jahre später, im Jahre 1686, eröffnete Francesco Procopio dei Coltelli, ein gebür­tiger Sizilianer und einer der Hofköche Ludwigs XIV., im Pariser Quartier Latin das – heute als Restaurant existie­rende – Café Procope, in dem neben Kaffee als Novum auch Speiseeis serviert wurde. Das war nicht gerade die Demokra­ti­sierung des Frucht­eises – solche Näsche­reien waren immer noch ein Privileg der Reichen – , aber ein erster Schritt hin von der Exklu­si­vität zum Volksgut und der Beginn einer leckeren Eiszeit, die bis heute andauert und andauert und…

Das Schlußwort hat der Lexigraph von Dr. Oetker: „Man unter­scheidet sieben Speise­eis­sorten: 1) Kremeis; 2) Fruchteis; 3) Rahmeis; 4) Milch­spei­seeis; 5) Eiskrem; 6) Einfach­eiskrem; 7) Kunst­spei­seeis.«

 

 

 

 

 

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