Rubus idaeus – was wie der Titel eines liturgischen Sprechgesangs klingt, das ist der wissenschaftliche Begriff für eine der köstlichsten Früchte: die Himbeere.
Vermutlich geht der Name auf den griechischen Arzt Krateuas zurück, der um 100 v. Chr. lebte und die Beere mit dem kretischen Berg „Ida“ verband, der zudem als Geburtsort von Zeus gilt, dem weisesten und mächtigsten aller Götter. Einer anderen, eher weltlichen These zufolge soll sich der Name vom türkischen Gebirgszug „Ida“ ableiten, der ebenfalls mit den Göttern eng verknüpft ist – hier hat Hera den Zeus verführt – und an dessen Hängen bereits in antiker Zeit die zu den Rosengewächsen (Rubus) gehörenden Himbeeren geerntet worden sind. Das deutsche Himbeere entstammt dem althochdeutschen Hintperi und heißt so viel wie „Beere der Hirschkuh“; die Tiere haben sich angeblich am liebsten in Himbeersträuchern versteckt.
Ein göttliches Aroma
Jedenfalls haben Himbeeren, genauer: Waldhimbeeren, das göttlichste Aroma aller Früchte. Diese kleinen roten Beeren sind in ihrer Ästhetik und dem herrlich dichten Aroma von makelloser Harmonie. Erst wird das Auge entzückt, danach der Gaumen. Ob sie roh genascht wird, ob püriert als Fruchtmark verwendet, ob zu Sirup, Gelee, Kompott oder Marmelade verarbeitet, ob sie die Rote Grütze adelt, einem Champagner-Cocktail den entscheidenden Geschmack verleiht, Saucen sowie Salate zum Erblühen bringt oder in gebrannter Form als Waldhimbeerschnaps den Geist beflügelt: die Beere ist kulinarisch omnipotent – und gesund obendrein, denn sie enthält reichlich Vitamine sowie Mineralien und sogenannte Antioxidantien, weshalb sie früher von den Mönchen vor allem wegen ihrer Heilkraft angebaut worden ist.
Den Feinschmecker erfreut die Botschaft, dass Himbeeren gut fürs Herz sind und Entzündungen hemmen, dass die hübschen Kerne die Verdauung anregen, zudem für schönes Haar, feste Nägel und glatte Haut sorgen. Gesund und wohlschmeckend ist eine ideale Kombination.
Umso inniger wird er sich seinen eigenen Himbeeressig brauen:
300 g unverletzte Himbeeren mit einem Liter feinsten Weißwein- oder Rotweinessig in ein Gefäß füllen, gut verschließen, zwei Wochen lang an einem warmen Ort stehen lassen, des öfteren gut durchschütteln. Danach die Flüssigkeit durch ein engmaschiges Sieb oder ein Leinentuch filtern und aufkochen – nach Gusto angereichert mit Ingwer oder Rosmarin, Minze sowie etwas Zucker oder Honig. Den solcherart parfümierten Essig abkühlen lassen, erneut über die Beeren gießen, in Flaschen füllen und kühl lagern (alternativ die Beeren mitsamt dem Essig behutsam durch ein Haarsieb streichen).
So ein Himbeeressig, den es freilich auch fertig zu kaufen gibt, schmeckt tropfenweise pur über Fleischpasteten geträufelt oder als Ingredienz für eine Sauce zu Gemüse, Kalbsleber, Nieren, Entenbraten und Wildgerichten. Delikat ist eine „Blanc Manger“, eine Mandelsulz auf einer mit Kirschen verfeinerten Himbeersauce. Pürierte, durch ein Sieb gestrichene und mit etwas Himbeergeist (4 cl) angereicherte Himbeeren (500 g) sind, gekühlt und mit Champagner oder bestem Sekt aufgefüllt, ein herrlicher Aperitif für zwölf Personen. Apropos: der klassische Kir Royal (Crème de Cassis aufgefüllt mit Champagner) gewinnt ungemein an Finesse und auch Charakter, wenn man die Gläser zuvor großzügig mit Himbeerschnaps ausschwenkt.
Neben den Sommerhimbeeren gibt es übrigens die bis in den Oktober hinein tragenden Herbsthimbeeren. Die Früchte eignen sich besonders gut zum Backen, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen Beeren selbst im Ofen ihr feines Aroma nicht verlieren. Außerdem lassen sie sich gut einfrieren, so daß die eingefangene Sonnensüße auch im Winter verfügbar ist.
Ein weltberühmtes Dessert
Und daraus läßt sich beispielsweise ein weltberühmtes Dessert zaubern, die Pfirsich Melba, korrekt „Pêche Melba“ genannt: Die Welt lag der australischen Sängerin Nellie Melba (eigentlich Dame Helen Porter Mitchell, 1861–1931) zu Füßen und so war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr Auguste Escoffier, der größte Koch seiner Zeit (1846–1935), 1892 im Londoner Hotel Savoy, wo die Diva nach ihren Auftritten in Covent Garden residierte, ein Gericht komponierte: Zwei zarte weiße Pfirsiche werden in Zuckersirup mitsamt einer halben Vanillestange und etwas Zitronensaft kurz blanchiert (so lange, bis die Spitze einer feinen Fleischgabel ohne Widerstand bis zum Stein durchdringt), danach geschält, halbiert, leicht gezuckert, auf Vanille-Eis gesetzt und mit Waldhimbeermark übergossen. Escoffier hatte die Speise mit einem Schleier aus gesponnenem Zucker bedeckt und in Silberbechern angerichtet, die zwischen den Flügeln eines aus Eis geschlagenen Schwans standen. Der Schwan war keine Laune des Kochs, sondern Symbol, denn Nellie Melba kam von der Premiere der Wagner-Oper Lohengrin…
kafl